Kommentar zum Klimaschutz Allerletzte Ausfahrten

Bonn · Zwar rief man in Deutschland nach der Atomreaktor-Havarie in Japan die Energiewende aus. Das Weltklima empfindet das jedoch nur als Nadelstich - so schwer wiegt der Rest der Weltgemeinschaft. Ein Kommentar von GA-Redakteur Wolfgang Wiedlich.

Die Zukunft schien lange so weit weg, dass erst die Kinder der Kinder unserer Kinder von den Folgen des Klimawandels betroffen sein würden. So kam nicht nur Deutschland auf die Idee, das Thema im angestaubten Ordner "Wiedervorlage" abzuheften. Zwar rief man hierzulande nach der Atomreaktor-Havarie in Japan reflexhaft die Energiewende aus. Aber Reflexe sind keine guten Berater. Die Energiewende braucht einstweilen Braunkohle zur Stromerzeugung. Mit keinem Brennstoff lässt sich die globale Erwärmung effektiver anheizen. Das Weltklima empfindet den deutschen Fauxpas jedoch nur als Nadelstich - so schwer wiegt der Rest der Weltgemeinschaft.

Fakt ist, dass der zusätzliche Treibhauseffekt seit Jahren mehr befeuert wird. Nun soll der 21. UN-Klimagipfel in Paris im Dezember zur letzten Ausfahrt aus dem "Business-as-usual"-Alltag werden. Indes hat sich das Vertrauen in die kollektive Problemlösungsfähigkeit verflüchtigt. Die eingespielte Gipfelstrategie, trotz substanzloser Konsenspapiere von Erfolgen zu berichten, hat viel Zeit ungenutzt verstreichen lassen. Der Ansatz war und ist: eine Grenze für die gerade noch tolerierbaren Klimafolgen zu finden, dann ein Temperaturerhöhungsziel zu definieren und im nächsten Schritt ein zielkonformes Treibhausgas-Freisetzungsbudget zu errechnen. Danach sollte dieses Budget auf 194 Staaten verteilt werden. Ergebnis: Fehlanzeige.

Das vielbeschworene Zwei-Grad-Ziel gilt als Leitplanke, doch es toleriert bereits den Untergang einiger Inselstaaten. Wer die Soll- und Ist-Zahlen nüchtern nebeneinander legt, verspürt zudem eine gewisse Aussichtslosigkeit. Durch das jahrzehntelange Nichtstun hat sich der Zeitkorridor so verengt, dass der Weg zum Ziel heute als Abenteuerpfad erscheint. Seit vielen Jahren steht fest: Bis 2050 muss die Weltemission um mindestens 80 Prozent sinken, wenn man die Zwei-Grad-Grenze nicht überschreiten will. Der nun notwendige Husarenritt wird aus dem Bezugsjahr ersichtlich: 80 Prozent gegenüber dem Jahr 1990! Das gleicht der Situation eines infarktgefährdeten Übergewichtigen, der wider besseres Wissen immer weiter zugelegt hat und nun eine Radikaldiät befolgen muss, die noch gar nicht erfunden ist.

Weil das Unausgesprochene bereits in den Köpfen ist, haben sich viele Staaten längst auf die Erhöhung ihrer Anpassungsfähigkeit in einer wärmeren Welt fokussiert. Gleichzeitig untersuchen immer mehr Forscher eine allerletzte und hochriskante Ausfahrt: Wie lässt sich die Erde durch einen technischen Eingriff in planetarer Dimension kühlen?

Während die Welt beim Klima zwischen Alarmismus und Fatalismus schwankt, ist die Zukunft unvermittelt nähergerückt. Bereits 2030 wird das errechnete Treibhausgas-Depot in der Lufthülle für das Zwei-Grad-Ziel gefüllt sein. Das ist in 15 Jahren. Dann sind aus den Kita-Kindern von heute Studenten geworden.

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