Kommentar Afghanistan in der Phase des Übergangs: Grüße aus Talokan

Übergabe in Verantwortung? Ein längst viel bemühter Begriff, wenn es um Afghanistan und den Abzug aller NATO-Kampftruppen bis spätestens Ende 2014 geht. Man übergebe Verantwortung und ziehe sich, wo es doch gerade brennt, früher als geplant vom Ort des Geschehens zurück?

Wenn dies gemeint sein sollte, hat die Bundeswehr im afghanischen Talokan in diesen Tagen alles richtig gemacht. Ignorante US-Soldaten verbrennen Müll und werfen Ausgaben des Koran gleich dazu. Auch in Talokan kocht daraufhin die Volksseele, so sehr, dass der deutsche Stützpunkt mit ins Visier gewaltbereiter Demonstranten gerät.

Ja, in einem Land wie Afghanistan, gezeichnet und zerstört von drei Jahrzehnten Krieg und Bürgerkrieg, ist Glaube viel, manchmal sogar alles, weil es nicht mehr viel gibt als zu glauben: an eine bessere, an eine freiere Zukunft. Ohne Religionspolizei mit all ihren Auswüchsen aus Zeiten des Steinzeit-Regimes der Taliban.

Die NATO-geführte ISAF-Truppe, darunter derzeit noch knapp 5000 deutsche Soldatinnen und Soldaten, haben dem Land und seinen geschundenen Menschen diesen Glauben an eine bessere Zukunft zurückbringen sollen. Im Idealfall. Doch auch die NATO hat in dem mittlerweile elf Jahre dauernden Einsatz des Westens in Afghanistan reichlich Erde verbrannt. Je mehr die Allianz bei ihren harten Operationen gegen einen skrupellosen Gegner auch zivile Opfer verursacht und damit zusätzlich Leid in die Familien gebracht hat, desto mehr schwand der Glaube, dass die Soldaten selbst mit Mandat der Weltgemeinschaft wirklich das Gute woll(t)en. In Afghanistan gibt es einfach zu viele Akteure, zu viele Interessen, zu viele (einflussreiche) Nachbarn, zu viel Durcheinander, zu viel Krieg.

Dass die NATO länger als unbedingt nötig, länger als wirklich vertretbar, in Afghanistan bleiben würde, hatte ohnehin nie jemand erwartet. Jeder Tag, den die Truppensteller-Staaten ihre Soldaten früher nach Hause holen, ist mindestens subjektiv ein guter Tag. So fühlen es die Soldaten der Bundeswehr, ihre Angehörigen, die Mitglieder der Bundesregierung und die Abgeordneten des Deutschen Bundestages, die die Parlamentsarmee in den Einsatz geschickt haben. Übergabe in Verantwortung heißt der Sesam-öffne-dich für den Weg nach Hause.

Womöglich wird Talokan noch zum Synonym dafür, wie Abzug der internationalen Schutztruppe und Sicherheitsübernahme durch afghanische Kräfte aussehen könnten. Schnell, schneller, raus. Schon in den Tagen der Münchner Sicherheitskonferenz hatte US-Verteidigungsminister Leon Panetta durchblicken lassen, dass US-Kampftruppen schon 2013 den Kampf einstellen könnten. Die Devise: Abzug möglichst bald, und bitte mit dem geringst möglichen Maß an Gesichtsverlust.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Sehr viele Stühle: Der Bundestag soll
Nicht ohne Nachteil
Kommentar zur WahlrechtsreformNicht ohne Nachteil
Viel Potenzial bei Ungelernten
Kommentar zur Arbeitslosenquote Viel Potenzial bei Ungelernten
Eine andere Welt
Kommentar zu den weltweiten Militärausgaben Eine andere Welt
Zum Thema
Der Unruhestifter
Kommentar zur Rede von Emmanuel Macron an der Sorbonne Der Unruhestifter
Moral ist anstrengend
Kommentar zum Lieferkettengesetz Moral ist anstrengend
Noch nicht aufgewacht
Kommentar zum Treffen zwischen Scholz und Sunak Noch nicht aufgewacht
Nur Warten reicht nicht
Kommentar zur Frühjahrsprognose Nur Warten reicht nicht
Aus dem Ressort