Glückliches, geeintes Berlin: Die Mauer fliegt davon

Berlin · Die Mauer fliegt davon - Tausende Ballons steigen in den Abendhimmel über der deutschen Hauptstadt und mit ihnen Wünsche und Hoffnungen auf kleinen Karten. Beethovens "Ode an die Freude" erklingt, als sich die Lichtgrenze über Berlin auflöst.

 Die Ballons der "Lichtgrenze" steigen vor dem Brandenburger Tor auf. Foto: Kay Nietfeld

Die Ballons der "Lichtgrenze" steigen vor dem Brandenburger Tor auf. Foto: Kay Nietfeld

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Andächtiges Staunen, Gänsehaut, versteckte Rührung am Brandenburger Tor, das im geteilten Berlin im Niemandsland stand und jetzt Symbol der Einheit ist. Am Abend des 9. November zeigt Berlin der Welt Bilder von einem emotionalen Abschlussfest zur Erinnerung an den Mauerfall vor genau 25 Jahren. Ein buntes Feuerwerk taucht das Brandenburger Tor in blaues und rotes Licht.

Die Lichtgrenze aus knapp 7000 Ballons von der Bornholmer Brücke bis zur Oberbaumbrücke hatte seit Freitag auf 15 Kilometern einen Teil der einstigen Sperranlagen symbolisiert, die einst rund 155 Kilometer lang waren.

Das Bürgerfest "Mut zur Freiheit" am Wahrzeichen Berlins wird schon vor dem Aufsteigen der Ballons geschlossen - wegen Überfüllung. Hunderttausende stehen dicht an dicht. Kinder werden hochgehalten, unzählige Fotoapparate klicken, um einmalige Momente festzuhalten.

Auch Bundespräsident Joachim Gauck, Kanzlerin Angela Merkel (CDU), der einstige sowjetische Staats- und Regierungschef Michail Gorbatschow, der frühere polnische Gewerkschaftsführer Lech Walesa sowie Bürgerrechtler wie Ulrike Poppe und Freya Klier sind gekommen. "Gorbi"-Rufe erklingen. Berlins Regierender Bürgermeister Klaus Wowereit (SPD) ruft: "Wir sind ein glückliches Volk." Nach und Nach steigen die mit Helium gefüllten Kugeln hoch - begleitet von Wowereits Worten: "Für Frieden und Freiheit."

Überall an der sich nun auflösenden Grenze treffen sich Massen von Menschen und feiern. Manche haben Sekt mitgebracht, anderswo geht es eher andächtig zu. Die Berliner Tourismuswerber sagen, weit mehr als eine Million Gäste sind an dem Mauerfall-Wochenende in Berlin.

Am Vormittag des Erinnerungstages nimmt sich Kanzlerin Merkel viel Zeit für die Opfer, als sie in der Mauer-Gedenkstätte an der Bernauer Straße eine neue Ausstellung eröffnet. Zweieinhalb Stunden bleibt sie an dem Ort, der als Symbol der deutschen Teilung in die Geschichte eingegangen ist. Es sind die Schicksale von Verfolgten, die bei der zentralen Gedenkveranstaltung von Bund und Land berühren.

Wie das von Dorothea Ebert. Die Geigerin spielt in der Mauer-Gedenkstätte, bevor die Politiker ihren Rede-Auftritt haben. Die heute 53-Jährige saß nach einem gescheiterten Fluchtversuch im berüchtigten DDR-Frauengefängnis Hoheneck, bevor sie von der Bundesrepublik freigekauft wurde. In der Haft spielte sie immer wieder Stücke von Bach - ohne ihr Instrument, nur in Gedanken.

Der 9. November 1989 sei einer der glücklichsten Momente der jüngeren deutschen Geschichte gewesen, sagt Merkel. Und: "Der Tag der Freude ist immer auch ein Tag des Gedenkens." Auch die Mutter von Chris Gueffroy ist an den früheren Todesstreifen gekommen. Ihr Sohn wurde im Februar 1989 als letzter Flüchtling an der Mauer erschossen. 138 Menschen starben durch das DDR-Grenzregime an der Berliner Mauer.

Zum Auftakt steckt Merkel im schwarzen Mantel schweigend eine gelb-rote Rose in den Schlitz der noch original erhaltenden Hinterlandmauer der einstigen Sperranlage und verneigt sich leicht.

Menschen warten hinter einem roten Absperrband, ebenfalls mit Rosen. Kurzerhand schiebt die Kanzlerin das Band zur Seite, die Wartenden können durch. Wenig später ist eine Blumenkette in dem grauen Mauerstück entstanden. In der Kapelle der Versöhnung werden Kerzen für die Toten entzündet.

In der Bernauer Straße spielten sich nach dem Mauerbau dramatische Szenen ab. Die Häuser auf einer Straßenseite gehörten nach dem 13. August 1961 nun zum Osten, der Bürgersteig davor zum Westen. In den ersten Tagen versuchten Bewohner noch, in die Freiheit zu springen.

"Das Unrecht kann nicht ungeschehen gemacht werden", sagt Merkel. Es müsse aber weiter benannt werden. Wenn elementare Grundrechte missachtet würden - "was sollte es anderes sein als ein Unrechtsstaat", betont die Kanzlerin. Und sie spannt den Bogen zu heutigen Konflikten und Krisen: "Wir haben die Kraft, die Dinge zu ändern. Wir können die Dinge zum Guten wenden - das ist die Botschaft des Mauerfalls." Und: "Träume können wahr werden." Berlins Regierungschef Wowereit mahnt: "Geben wir die Erinnerung weiter an die nächste Generation."

Im sanierten Dokumentationszentrum trifft Merkel auf den 73-jährigen Werner Coch. Sein zweiter Fluchtversuch wurde an die Stasi verraten. Der Student wurde verhaftet und verurteilt. Auch seine Geschichte wird in der Ausstellung erzählt. Das sei eine kleine Wiedergutmachung, sagt Merkel zu ihm. Der weißhaarige Coch freut sich eher still über die Begegnung. Mehrere der einst Betroffenen bitten die Kanzlerin: "Die DDR-Vergangenheit muss mehr in die Schule!" Merkel verspricht: "Sie haben auch künftig eine Stimme."

Am Eingang ist ein rostiges Stahlgitter in einer Glasvitrine zu sehen. Was aussieht wie ein mittelalterliches Folterinstrument, war Teil der DDR-Sperranlagen. "Stalinrasen" wurden die Platten mit 14 Zentimeter aufragenden Stahlstacheln genannt. Flüchtlinge sollten darin schwer verletzt hängen bleiben. Knapp 19 000 dieser Gitter lagen im Todesstreifen.

25 Jahre später feiern Ost und West am Brandenburger Tor gemeinsam. Als Rocker Udo Lindenberg auf die Bühne steigt, lockert sich die feierliche, fast nachdenkliche Stimmung.

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