Eine überflüssige Flucht im Trabi: Aus der DDR nach Bad Honnef

Vor 20 Jahren: Katrin Melzer und Karsten Geißler fliehen fünf Wochen vor demMauerfall aus der DDR. Heute leben sie in Bad Honnef, erzählen ihre Geschichteund bereuen nichts

Fünf Wochen früher, und Katrin Melzer hätte vor Freude geweint, als sich die Mauer öffnete. Fünf Wochen früher, und sie wäre ihrem Freund Karsten um den Hals gefallen, hätte ihre fünfjährige Tochter Jette geschnappt und wäre unter denen gewesen, die von Ost-Berlin in den Westteil der Stadt strömten.

Aber an diesem Tag, lächerliche fünf Wochen später, sieht alles anders aus. Katrin Melzer und Karsten Geißler haben fünf Wochen vor der Grenzöffnung mit ihrem Kind die DDR verlassen. Über Ungarn sind sie geflohen, haben alles zurückgelassen. Ihre Wohnung, ihre Ausbildung, ihre Eltern, Familien, Freunde. Und jetzt das.

9. November 1989, der Tag des Mauerfalls. Katrin sitzt auf der Bettkante in einem Zimmer des Hotels Ditscheid an der Bad Honnefer Luisenstraße. Vor ihr flimmern Schwarz-Weiß-Bilder über die von knallrotem Kunststoff eingerahmte Mattscheibe. Gebannt starrt die 24-Jährige auf den Fernseher. Sie kannnicht fassen, was sie sieht.

Katrin rinnen Tränen die Wangen hinunter. „Warum haben wir das gemacht?“, fragt sie sich. Auch Karsten, der mit Markus, einem schon zuvor in den Westen geflohenen Freund, von einer Einkaufstour zurückkehrt, weiß nicht warum. Ihre Flucht, die sie von langer Hand geplant hatten, erscheint mit einem Mal unsinnig, ja überflüssig.

Wie alles anfing: Das Ticket in die Freiheit liefert eines Tages eine Einladung zur Hochzeit – in Cluj. Das liegt in Rumänien. Jimmi, der Sprachlehrer aus dem Westen, hat eingeladen; er wird in Cluj die Rumänin Eva heiraten. Beide hatten Katrin und Karsten auf einer Reise nach Siebenbürgen kennengelernt. „Ich wollte nie in der DDR alt werden“, sagt Karsten.

Für Katrin dagegen stand erst zwei Wochen vor der Abreise nach Rumänien fest, dass sie nicht zurückkehren werden. Um die Vorbereitungen heimlich über die Bühne zu bekommen, liefern Katrin und Karsten ihre Tochter Jette bei Katrins Eltern ab. Wie Jette ahnen auch die von nichts. Schon allein, um sie zu schützen, wenn später die Stasi bohrende Fragen stellt. Nur Karstens Bruder Stefan ist eingeweiht.

Zeugnisse, Katrins Facharbeiterbrief, aber auch Fotoalben verstecken die beiden zwischen Gerümpel in der Garage der Eltern. Das meiste, was sie besitzen, bleibt zurück. Persönliche Erinnerungen, die nach der Flucht nicht der Stasi in die Hände fallen sollen, verbrennen Katrin und Karsten im Badeofen. Der glüht stundenlang.

Schon allein wegen der vielen Briefe, die Katrin ihrem Freund während seiner 540 Tage bei der Volksarmee geschrieben hat. Jeden Tag einen. Sie wandern alle ins Feuer. „Wenn ich daran denke, könnte ich heute noch heulen“, sagt Karsten.

Der Schreibtischverkauf bringt das Geld für den Fluchtsprit

In den vergangenen Tagen haben sich die Ereignisse in der DDR überstürzt. Züge voller Flüchtlinge aus der Prager Botschaft rollen durchs Land. Vopos knüppeln Schaulustige nieder, die das Unfassbare sehen wollen. Spontan-Demos überall im Land. Die DDR-Mächtigen wirken hilflos, die Behörden verunsichert.

Katrin, Karsten und Jette bekommen eine „Reiseanlage für den visafreien Verkehr“. Aber wie lange gilt der Freibrief? Im Radio überschlagen sich die Nachrichten, mal darf gereist werden, mal nicht, alles kann sich stündlich ändern.

Am 5. Oktober ist die Zeit reif. Der 23-jährige Karsten hat seinen Schreibtisch verkauft, um einen Anteil am Spritgeld für den Trabi seines Bruders beizusteuern. In Karl-Marx-Stadt warten drei weitere Mitreisende, darunter Stefans Freundin Annet. Sie sollen morgen ihre Ausreisepapiere bekommen. Doch die Behörden nehmen ihnen die bereits ausgestellten Dokumente wieder ab.

Ein Signal für Katrin und Karsten, dass sich das Zeitfenster für die Ausreise wieder schließen könnte. Sie wollen los, doch Stefans Freundin zeigt wenig Verständnis dafür, dass er allein fahren will. Stefan erklärt: „Katrin und Karsten kommen nicht wieder zurück.“ Ein erster Abschied für immer.

Und Katrin und Karsten sind sicher, dass es ihnen geholfen hat, dass sie schon vor langer Zeit ihre Reise zur Hochzeit beantragt haben. Das wirkte weniger verdächtig, als der kurzfristige Antrag zu einer Zeit, in der die Menschen die DDR in Scharen zu verlassen versuchen. Auf ihrer „Zoll- und Devisenerklärung für Reisen in RGW-Staaten“ stehen nicht nur Kronen, Forint und Lei, sondern auch 200 Platzkärtchen, drei Altarkerzen, zwei Tropfdeckchen und zwei Schallplatten. Alles fürs Fest.

6. Oktober, Aufbruch nach Zinnwald. Die Grenzer suchen nach Papieren: „Haben Sie Zeugnisse dabei?“ Nein, die liegen nicht umsonst zwischen dem Gerümpel in der elterlichen Garage. Im Koffer haben sie festliche Kleidung für die Hochzeit. Nur nicht zu viel Nützliches für ein neues Leben, bloß nicht auffallen. „Aber die Grenzer waren damals schon sehr beschäftigt, es sind so viele abgehauen.“

Nur um Benzin aus dem Ersatzkanister in den Trabi-Tank zu füllen, hält die Reisegruppe aus drei Erwachsenen und einem Kind auf der 1340 Kilometer langen Fahrt ins rumänische Cluj. Sie wollen Distanz gewinnen, weg, weit weg.

Auch in den nächsten Tagen verfolgen sie im Radio, was in der DDR vor sich geht: Während die SED-Funktionäre offizielle Feiern zum 40-jährigen Bestehen des Arbeiter- und Bauernstaates abhalten, als würde um sie herum nichts geschehen, wächst der Widerstand in der Bevölkerung.

"Ich hab' mich nicht verquatscht, sonst wäre ich jetzt nicht hier"

Katrin und Karsten fühlen sich in ihrer Entscheidung bestärkt, das Land zu verlassen. Die Urlaubstage in Cluj vergehen mit Wanderungen durch menschenleere Landschaften und schließlich mit dem Hochzeitsfest. Ein Vorgeschmack auf das neue Leben und ein Innehalten nach dem alten.

Am 13. Oktober wird es ernst. Stefan bringt seinen Bruder und dessen Familie nach Budapest. Dort suchen sie die Deutsche Botschaft, an deren Tor hängt ein Zettel mit der Adresse des Auffanglagers Csillebérc. Karsten spricht die am Eingang stehenden Malteser an: „Guten Tag, wir möchten in die Bundesrepublik Deutschland “ Die Antwort: „Da sind sie hier goldrichtig.“ Wieder Abschied nehmen, diesmal von Stefan.

Es fließen Tränen, „wie Rotz und Wasser“, sagt Karsten. Sie wechseln Versprechen, sich irgendwann im Urlaub in Ungarn zu treffen, am Balaton, bis zur Wende deutsch-deutscher Treffpunkt, möglichst auch mit den Eltern.

Dann trennen sie sich. Bis dahin hätten sie zurück gekonnt, ohne dass irgendwer etwas von ihren Fluchtplänen gemerkt hätte. Ein Hirngespinst, mehr nicht. Doch ab sofort ist alles anders. Jetzt gibt es kein Zurück mehr. Republikflucht.

Ein Kleinbus fährt Katrin, Karsten und Jette über das riesige Gelände des Pionierlagers, vorbei an einem Wäldchen, dann an einem Sportplatz. Am Tag darauf beginnen in der DDR die Herbstferien, das Lager füllt sich. Die Familien dürfen zuerst weiter reisen. In der Nacht vom 14. auf den 15. Oktober reisen die drei in die Bundesrepublik Deutschland ein.

Ein Reisebus mit der Aufschrift „Lindenbauer Wien“ bringt sie bei Passau über die Grenze. Ein Videofilm läuft: ET, der Außerirdische, will nach Hause telefonieren. Wie einst Katrins und Karstens Freund Markus, der im Mai mit seinen Eltern und seiner Schwestern versteckt im Bettkasten eines Wohnmobils geflohen ist.

Um Katrin und Karsten, die als einzige von der Flucht wussten, Nachricht zu geben, dass er heil im Westen angekommen war, rief er an, um sich nach der Katze zu erkundigen. Ein Code, weil die Gefahr bestand, dass die Stasi das Telefon abhörte.

Trotzdem, als Markus weg war, bestellt die Behörde Katrin zum Verhör in die Zentrale an der Samariterstraße – und löchert sie mit Fragen. Sie sagt: „Ich hab’ mich nicht verquatscht, sonst wäre ich jetzt nicht hier.“

15. Oktober, Kaserne Hammelburg. In einer Wagenhalle stehen lange Tischreihen mit Kleiderspenden. Alle decken sich ein. Pullis, Anoraks, aber auch ein Teddybär für Jette. Notaufnahmeverfahren. Dann geht es mit dem Zug weiter nach Wesel, wo eine Katastrophenschutzschule als Unterkunft dient.

Katrin, Karsten und Jette wollen nach Bad Honnef, weil dort ihr Freund Markus mit seinen Eltern lebt. Eine naheliegende Anlaufstelle. „Das war alles so schön. Der Rhein, die Spielplätze, Autohäuser voller Autos – wie im Westen.“

31. Oktober: Die Malteser kommen und holen sie ab. Im Kleinbus geht es erst nach Bonn, dann nach Bad Honnef ins Hotel Ditscheid, heute ein Altenheim. Schleiflackmöbel, 70er-Jahre-Tapete, Ehebett, Tisch, Stuhl.

"Unglaublich, wie freundlich die Leute zu uns waren“, sagt Katrin. Wie die Jansens, ein älteres Lehrerehepaar, das eine freie Wohnung in seinem Drei-Familien-Haus angeboten hatte. Für Ostflüchtlinge.

Beim Antrittsbesuch taut das Kind das Eis. Jette und Frau Jansen sind ein Herz und eine Seele, aber auch Katrin kann mit ihrer Gärtnerausbildung bei dem pensionierten Biologielehrer punkten. Klar, dass sie dem Ehepaar nicht nur im Haushalt, sondern auch im Garten zur Hand gehen wird.

Dann kommt die Glaubensfrage. „Sind Sie katholisch?“ will der Ur-Rheinländer wissen. Und mit dem zaghaften „Neiiin“ seiner künftigem Mieter steht für ihn fest: „Dann sind die evangelisch.“ Keiner widerspricht. „Nur bei der Frage, ob wir verheiratet sind, da haben wir das einzige Mal gelogen“, erinnert sich Katrin. Was drei Monate später auch für Jansen keine Rolle mehr spielt.

Als Trauzeuge steht er mit Katrin und Karsten vor dem Standesbeamten, nicht vor einem Priester. Kein Kommentar: „Sie sind Atheisten, aber trotzdem anständige Menschen.“ Katrin verdient Geld als Haushaltshilfe bei Jansens und in anderen Familien, Karsten jobbt als Pflegehelfer im Altenheim „Abendfrieden“. Im Sommer nimmt er sein Zahnmedizin-Studium wieder auf, die meisten Scheine aus dem Osten bekommt er anerkannt.

Doch vorher kommen Karstens Eltern aus Berlin zum Weihnachtsfest. Sie sitzen in der Zwei-Zimmer-Wohnung um den Küchentisch, in der Mitte steht eine Ananas: eine Südfrucht als Blumenschmuck. Katrins Eltern kämpfen noch mit dem Gefühl, von ihrem Kind verlassen worden zu sein. Die Tochter hat ein anderes Leben gewählt, nicht ihre Nähe.

Was sie aus einem Brief erfahren haben, den Katrin durch Karstens Bruder Stefan überbringen ließ. Darin geht es um Politik, um die Nerven, die es gekostet hat, den Mund zu halten, aber auch um Persönliches.

„Die DDR wird immer unsere Heimat bleiben, nur können wir in unserer Heimat nicht mehr leben. Ich hoffe ganz einfach, dass Ihr diesen Entschluss versteht und uns keine Vorwürfe macht“, schreibt Katrin. Nicht leicht für die Eltern. Auch die sich auflösende DDR tut sich schwer mit ihren ehemaligen Staatsbürgern: Ende Dezember 1989 gibt es eine General-Amnestie für Republikflüchtige. Bis dahin dürfen Katrin und Karsten nicht zurück.

Kaum geht es, fahren sie Silvester nach Berlin. Heimat hin oder her, ihr Zuhause ist dort nicht mehr. Die Wohnung aufgelöst, als hätte es die Bewohner nie gegeben. Sie leben ihr neues Leben.

Karsten ist inzwischen Zahnarzt mit einer Praxis im Westerwald, und Katrin, die nach der Gärtnerausbildung auch als Zahntechnikerin gearbeitet hatte, hat ihren Doktor in Biologie gemacht. 16 Jahre nach Jette sind sie auch noch einmal Eltern geworden. Charlie heißt ihr Nachzügler, ein reines „Westkind“.

Ihre Entscheidung haben sie nie bereut, nie mit ihrem Schicksal gehadert, auch nicht damit, dass es nur fünf Wochen waren, die sie hätten warten müssen. Aber wären sie Hellseher gewesen, könnten sie heute nicht ihre Geschichte erzählen – etwa wie Katrin tränenüberströmt vor dem roten Schwarz-Weiß-Fernseher im Honnefer Hotelzimmer saß und den ahnungslosen Karsten empfing: "Die Mauer ist offen!"

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