"Bitte hilf uns hier raus"

Der jetzt gefasste Paul Schäfer gründete seine Sekte einst in Siegburg - Zahl deutscher Unterstützer der chilenischen Siedlung "Colonia Dignidad" schien lange übermächtig

  Paul Schäfer  bei seiner Festnahme in Buenos Aires.

Paul Schäfer bei seiner Festnahme in Buenos Aires.

Foto: ap

Siegburg. Seinen Sektenjüngern predigte Paul Schäfer sexuelle Askese und Besitzlosigkeit. Ihn selbst jagte die chilenische Polizei wegen des sexuellen Missbrauchs von 27 Kindern. Jetzt fassten ihn die Kollegen im Nachbarland Argentinien - in der Luxusvilla eines Nobelvorortes der Hauptstadt Buenos Aires.

Am Freitag begrüßte Bundesaußenminister Joschka Fischer die Festnahme des inzwischen 83-jährigen deutschen Gründers der chilenischen Siedlung "Colonia Dignidad": Dank der "hervorragenden Zusammenarbeit der deutschen, chilenischen und argentinischen Strafverfolgungsbehörden" hätten die "intensiven Bemühungen der Bundesregierung" zum Erfolg geführt.

Von "intensiven Bemühungen" deutscher Behörden und Politiker war in vergangenen Jahrzehnten wenig zu spüren. Vielen Menschen wäre großes Leid erspart geblieben, wäre zu früheren Zeiten die Zahl der Bemühten nur etwas größer gewesen. Zu ihnen gehörte stets der CDU-Politiker Norbert Blüm sowie die deutsche Sektion von amnesty international.

Doch die Zahl der deutschen Unterstützer der chilenischen "Colonia Dignidad", der "Kolonie der Würde", schien lange übermächtig - neben anderen CSU-Vorsitzender Franz Josef Strauß, ZDF-Moderator Gerhard Löwenthal, der Königswinterer Kriegswaffen-Händler Gerhard Mertins, der damalige Siegburger Bürgermeister und CDU-Bundestagsabgeordnete Adolf Herkenrath ("Herr Blüm hat, wenn er die Kolonie beurteilen will, gegenüber mir einen entscheidenden Nachteil: Er war noch nie drin") sowie diverse deutsche Botschafter in Chile.

Die Bonner Staatsanwaltschaft prüft nun, ob bei den argentinischen Behörden ein Auslieferungsantrag gestellt werden soll. Das bestätigte am Freitag Oberstaatsanwalt Fred Apostel. Denn gegen Schäfer liegt aus Bonn immer noch ein internationaler Haftbefehl vor. Nicht erst in Chile wurde ihm sexueller Missbrauch von Kindern vorgeworfen ( der GA berichtete).

Der am 4. Dezember 1921 in Troisdorf geborene Paul Schäfer hat sich nach dem Krieg den richtigen Beruf ausgesucht, um seinen pädophilen Neigungen nachzugehen. Nach dem Krieg verdingt er sich zunächst als Hilfsarbeiter auf Jahrmärkten. Dann dient er sich kirchlichen Organisationen als Jugendbetreuer an.

Aber immer wieder setzen ihm seine kirchlichen Arbeitgeber den Stuhl vor die Tür - zuletzt schließlich Superintendent Walter Klocke, nachdem bekannt wird, dass der frisch gebackene CVJM-Jugendleiter Schäfer in Troisdorf junge Knaben in seine Wohnung bestellt, um sie über ihre sexuellen Fantasien auszufragen.

Auch Schäfers Hang zum Sadismus ist kein Geheimnis: Im Ferienlager müssen die Jungen eine Gasse bilden und mit Stöcken auf den nackten "Sünder" einprügeln, der beim Naschen erwischt wurde. Ein Junge, der über Heimweh klagt, wird auf Geheiß Schäfers von der Meute als Säugling "verkleidet" und in einen Kinderwagen gesteckt.

Nach seinem Rausschmiss stößt Schäfer in Gronau auf den fundamentalistischen Flügel einer Baptisten-Gemeinde: Russlanddeutsche, die vor dem Stalinismus geflohen sind, kinderreiche Familien und junge Kriegswitwen, einfache Leute, die gelernt haben, sich Autoritäten widerspruchslos zu unterwerfen. Der charismatische Schäfer predigt ihnen von Satan und von sexueller Askese, sie müssen ihm ihre intimsten Ehegeheimnisse anvertrauen, ihre Lohntüten, schließlich ihre Kinder.

Beim Siegburger Amtsgericht wird die "Private Sociale Mission" als gemeinnütziger Verein eingetragen, der "mildtätige Zwecke" verfolge: die "Aufnahme gefährdeter Jugendlicher". Mit einem Persilschein des Bonner Familienministeriums in der Tasche baut Schäfer 1954 in der Ortschaft Heide, die heute zu Lohmar, damals zu Siegburg gehörte, ein Kinderheim auf; und damit wenige Jahre nach dem Zusammenbruch des NS-Regimes seinen eigenen, kleinen Führer-Staat.

Dem 20-jährigen Maurer Günther Bohnau befiehlt Schäfer, seinen Lohn abzuliefern und sich von seinem Mädchen zu trennen. Als sich der junge Mann einer "Teufelsaustreibung" unterziehen soll, entscheidet er sich gegen die Sekte und damit gegen seine Familie; Vater Nathaniel, Mutter Helene, Bruder und Schwestern: "Sie waren Schäfer längst hörig."

Die demütigenden "Beichten", die auf Tonband mitgeschnitten und als Abschriften in Schäfers Aktenordnern gesammelt werden, die Abhöranlagen in den Schlafzimmern, die sadistischen Züchtigungen "gefallener Mädchen" in der abendlichen "Herrenrunde" bleiben der Öffentlichkeit verborgen. Doch 1961 hat die Bonner Staatsanwaltschaft die Aussagen zweier vergewaltigter Jungen auf dem Tisch. Während der Haftbefehl ausgestellt wird, flieht Schäfer nach Chile und kauft eine Farm - die Keimzelle der späteren "Colonia Dignidad".

Zuvor hat er die Gemeinde auf den Exodus vorbereitet: Die Rote Armee stürme bald das Rheinland, deshalb ziehe man ins gelobte Land. In einer Nacht-und-Nebel-Aktion werden die Zeugen der Anklage, 150 Heimkinder, per Charterflug nach Chile verfrachtet. Das Heim in Heide kauft die Bundeswehr. Mit den 900 000 Mark wird der Aufbau der Farm in Chile finanziert.

Günther Bohnau bleibt in Siegburg und hört sieben Jahre lang nichts von seiner Familie. Dann, im August 1968, erreicht ihn ein Brief seines Vaters: "Wir werden hier sehr schlecht behandelt. Die Kinder werden furchtbar geschlagen. Die Mama wurde eingesperrt. Sie ist fast nur noch Haut und Knochen. Bitte hilf uns hier raus."

Der Sohn alarmiert das Auswärtige Amt. Am 15. August ersucht er beim Referat V/6 der Rechtsabteilung um Rechtshilfe. Der Beamte versichert, alles werde an die zuständige Botschaft in Santiago zur Prüfung weitergeleitet. Günther Bohnau hört nie mehr etwas von den Behörden.

Mit Wolfgang Kneese, der 1964 als 20-Jähriger unter abenteuerlichen Umständen aus dem von Stacheldraht umgebenen chilenischen Lager fliehen kann, gründet er die "Not- und Interessengemeinschaft der Geschädigten der Colonia Dignidad", hält Vorträge, schreibt sich die Finger wund. Vergebens. "Ich habe aufgegeben. Ich bin im Lauf der Jahre mutlos geworden", gesteht er 1991 dem General-Anzeiger.

In den 70er Jahren diente die abgeschottete "Colonia Dignidad" der Pinochet-Diktatur als Folter-Lager. Im Gegenzug tolerierten die Machthaber den steilen Aufstieg der Farm zu einem der größten Wirtschaftsunternehmen Chiles. Die "Colonia Dignidad", so groß wie das Saarland, verfügt sogar über eigene Bergwerke zum Abbau von Gold, Titan und Uran.

Wolfgang Kneese bestieg am Freitag eine Maschine nach Chile: "Ich will Schäfer hinter Gittern sehen. Wir sind von ihm betrogen worden; um unsere Ideale, unser Leben". Wolfgang Kneese war zwölf, als Schäfer ihn das erste Mal vergewaltigte. Gleich in der ersten Nacht, nachdem er ins Heim nach Heide geschickt wurde. "Die einzige menschliche Zuwendung, die wir Kinder erhielten, war der sexuelle Akt mit Paul Schäfer. Und dafür muss das Schwein bezahlen."

Diese Genugtuung wird sein Mitstreiter nicht mehr erfahren. Günther Bohnau starb vor neun Jahren. "Er ist aus Gram gestorben", sagte seine Frau am Freitag dem General-Anzeiger. "Paul Schäfer hat ihn kaputt gemacht."

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