Welt-MS-Tag Anne Nübel-Orthen aus Heimersheim ist Betroffene und Buch-Autorin

HEIMERSHEIM · Es ist Weiberdonnerstag im Rheinland. Ausnahmezustand zwischen Luftschlangen, Berlinern und Alaaf-Rufen. Für Anne Nübel-Orthen ist an diesem Tag wirklich Ausnahmezustand. An diesem Tag im Jahr 1995 bricht ihre heile Welt zusammen. Mit 27 Jahren erhält sie die Diagnose: Multiple Sklerose (MS). Bei der Apothekerin setzt der Angst-Automatismus ein: Oh Gott, Rollstuhl! Oh Gott, gelähmt!

 In ihrem Wohnzimmer schrieb Anne Nübel-Orthen während und nach einem schweren MS-Schub das Taschenbuch.

In ihrem Wohnzimmer schrieb Anne Nübel-Orthen während und nach einem schweren MS-Schub das Taschenbuch.

Foto: Marion Monreal

Vier Tage zuvor war sie mit tauben, eiskalten Füßen zur Arbeit nach Bonn gefahren. Hatte es als "Frostbeule" auf die Minustemperaturen geschoben. Schon nachmittags war sie bis zum Rippenbogen taub, verließ die Arbeit früher, um zum Hausarzt zu gehen.

"Das fühlte sich sehr bedrohlich an und ich wusste: Das ist was Ernstes", erinnert sich die 44-Jährige im GA-Gespräch vor dem MS-Tag. Bis zuletzt hoffte sie, dass es Symptome einer Borreliose sind. Doch es war ihr erster MS-Schub, dem rund 15 weitere folgten, bis sie aufhörte, sie zu zählen. Sieben Wochen blieb sie in der Klinik, erhielt dort hoch dosiert Cortison.

"Diese Zeit dort war wie ein eigener Lebensabschnitt." Durfte sie am Wochenende nach Hause zu ihrem Mann, mit dem sie seit drei Jahren verheiratet war, fühlte sie sich schlapp und krank. Kehrte sie zu ihren Mitpatienten in der Bonner Neurologie zurück, fand sie, es gehe ihr richtig gut.

Hinzu kam ihr innerer Kampf, der die tief gläubige Anne Nübel-Orthen hin und her warf zwischen totaler Rebellion, innerem Widerstand und Akzeptanz. "Jeder weiß, dass Geld nicht glücklich macht. Aber Gesundheit, die gehört doch unumstritten dazu", dachte sie damals.

Regelmäßige Meditation

Als sie mehr und mehr spürte, dass die Auflehnung zusätzliche Kraft kostete, ließ sie los und begriff nach und nach, dass sie die eigene Gesundheit nicht mehr als Grundbedingung dafür braucht, um glücklich sein zu können. Durch regelmäßige Meditation entwickelte sie eine andere Wahrnehmung ihres Körpers und des ganzen Lebens und das ermöglichte ihr einen wohltuenden Abstand und innere Ruhe zu finden.

"Da begriff ich die Chance in der Krise. Da wurde mir bewusst, dass MS nur das Fahrzeug war, um zu diesem Ziel, dieser Lebenshaltung zu gelangen: Wenn es mir gelingt, meinen Frieden mit der äußeren Situation zu machen, eröffnet mir das eine innere Freiheit, die neues Vertrauen ins Leben schafft."

Drei Jahre nach ihrem ersten MS-Schub entschied sie sich mit ihrem Mann, "der mir massiv zur Seite stand und nie in Katastrophendenken verfiel", bewusst für ein Kind. So brachte sie nach drei Jahren Leben mit MS, übrigens keine Erbkrankheit, ihren Sohn Matthias zur Welt. 2008 kickte ihr bislang schwerster Schub sie für fünf Monate aus ihrem Alltag, weil sich Entzündungsherde im Rückenmark nur langsam zurückbildeten. Ein weiterer folgte zum Jahreswechsel 2009/2010. Freunde und Familie zogen alle Register, um sie zu entlasten, als sie erneut für Monate ausfiel und nur liegen konnte.

Der Moment zählt

Doch Anne Nübel-Orthen gibt nicht auf, tut Dinge bewusst, die ihr gut tun und entscheidet das jeden Tag aufs Neue. Der jetzige Moment zählt. "Das ist mal ein Spaziergang, mal die Physiotherapie." Aber immer täglich die Meditation, die hilft, die Krankheit als Wegbegleiterin zu akzeptieren. "Wenn ich der MS einen Sinn in meinem Leben zuspreche, dann den, zu lernen, in Frieden mit den Dingen zu sein."

Seit neun Jahren ist sie nun in einer Basismedikation, die ausgleichend auf ihre Abwehr einwirkt. Sie spritzt sich das Mittel selbst unter die Haut. Natürlich gibt es Hochs und Tiefs. Doch ihr gelingt es immer wieder, die Seele aufzubauen, wenn es mit dem Körper bergab geht.

Die Zeit in und nach jenem schweren Schub 2008 nutzte sie, um den Erfahrungsbericht "Auf tauben Sohlen unterwegs - Mit Multipler Sklerose auf der Reise zum wahren Selbst" zu schreiben, der pünktlich zum Welt-MS-Tag erscheint. Mit dem Taschenbuch (ISBN 978-3-8280-3010-7, Frieling-Verlag, 12,90 Euro) möchte sie Menschen, die in ähnlichen Situationen stecken und eine Krankheit oder eine andere schwere Krise zu verarbeiten suchen, ermutigen.

Ihre Texte sind aufwühlend und fesselnd, immer offen, manchmal tabulos. Und auch Selbstironie und Augenzwinkern fehlen nicht in Kapiteln wie "Blind Date: Gestatten? MS mein Name!" oder "Mein Bodyguard schwächelt".

Multiple Sklerose

MS ist die häufigste chronisch-entzündliche Erkrankung des Nervensystems, wovon alleine in Deutschland rund 120.000 Menschen betroffen sind. Frauen erkranken doppelt so häufig wie Männer. Typischerweise bricht MS im Alter zwischen 20 und 40 Jahren aus. Sie ist keine Erbkrankheit, wenngleich sie gelegentlich familiär gehäuft auftritt. Die Ursache ist noch weitestgehend ungeklärt. Das Abwehrsystem beginnt, körpereigene Strukturen anzugreifen.

Der Name leitet sich ab von vielzähligen, also multiplen, Entzündungsstellen im Gehirn und Rückenmark, zum anderen davon, dass diese Herde, wenn sie abheilen, verhärten (sklerosieren).

Zur Person

Anne Nübel-Orthen (44) ist in Altenahr aufgewachsen, machte 1986 Abitur in Ahrweiler, studierte in Bonn Pharmazie und arbeitete danach als Apothekerin. Sie lebt mit ihrem Mann Guido Orthen, Bürgermeister von Bad Neuenahr-Ahrweiler, und ihrem Sohn Matthias (13) in Heimersheim. Mit 27 Jahren wurde bei ihr die Autoimmunkrankheit Multiple Sklerose diagnostiziert. Sie geht ihrem Beruf in Teilzeit nach.

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