Sehnsucht nach der Schwerelosigkeit im Bonner Ballsaal

Um die Befreiung des Körpers im Tanz geht es in dem knapp 40-minütigen Solo "Superhero" von Martin Inthamoussú, das im Rahmen des 3. Internationalen Bonner Tanzsolofestivals im Ballsaal uraufgeführt wurde.

 Wie beflügelt: Martin Inthamoussú in seinem in Bonn uraufgeführten Solostück "Superhero".

Wie beflügelt: Martin Inthamoussú in seinem in Bonn uraufgeführten Solostück "Superhero".

Foto: Miguel Grompo

Bonn. Einmal habe der kleine Junge zwei Schwanenfigürchen aus dem Fenster geworfen, weil sie doch wegfliegen wollten, erzählt die Mutter in einem eingeblendeten Video. Um die Befreiung des Körpers im Tanz geht es in dem knapp 40-minütigen Solo "Superhero" von Martin Inthamoussú, das im Rahmen des 3. Internationalen Bonner Tanzsolofestivals im Ballsaal uraufgeführt wurde.

Der Tänzer und Choreograf aus Uruguay arbeitet seit 2005 regelmäßig mit der Bonner Compagnie CocoonDance zusammen. Mit dem Rücken zum Publikum sitzt Inthamoussú da und betrachtet den Sternenhimmel. Der Boden um ihn herum ist mit Zählstrichen bedeckt, wie sie Gefangene für die Tage ihrer Haft verwenden. Langsam setzt sich sein nackter Oberkörper in Bewegung, die Muskeln lösen sich aus der Erstarrung, die Arme breiten sich aus wie Vogelschwingen. Doch Ketten an seiner Hose halten ihn fest; er zieht sie rasselnd hinter sich her, wenn er sich erhebt und in immer weiteren Kreisen den Raum durchmisst.

Info Weitere Informationen unter www.theater-im-ballsaal.deBis er sie endlich ablegt und ungehindert in weiten Sprüngen auch die Luft erobert. Vor dem leuchtenden Firmament scheinen ihm wirklich Flügel zu wachsen. Die auf die Leinwand projizierten großen Federschwingen sehen für Momente so aus, als gehörten sie tatsächlich zu seinem Körper. Eine schöne Illusion: Er ist kein Engel mit Schwanenfittichen und kein rettender Superman mit wehendem Mantel. Inthamoussú zeigt in starken Bildern die Sehnsucht des Tänzers nach der Schwerelosigkeit. Sein "Superhero" entwickelt aus den Anfängen menschlichen Bewegungsverlangens eine Bewegungsfreiheit, die freilich Grenzen hat.

Dem ironisch gebrochenen Pathos seiner spielerischen Auseinandersetzung mit Männermythen und seiner tänzerisch brillanten Selbstreflexion wurde im fast ausverkauften Theater begeistert applaudiert. Zur Halbzeit des bis dahin rein männlichen "Internationalen Bonner Tanzsolofestivals" gab es zwei weibliche Choreografien. Um die widersprüchlichen Gefühle einer jungen Frau geht es in "In (n)ever Loverland" der Griechin Athanasia Kanellopoulou, die mit vielen wichtigen Compagnien in aller Welt zusammengearbeitet hat und zuletzt zwei Jahre lang bei "Les Ballets C. de la B." engagiert war.

Eine unbestimmte Sehnsucht treibt sie an wie die einsame"Lady of Shalott" in Alfred Tennysons berühmter Ballade, die ihr Stück inspiriert hat. Magisch angezogen wird sie von etwas Fremdem, das eine andere Seite ihres Selbst sein könnte. Sie sucht sich im Spiegel, wird von plötzlicher Lebensangst gepackt, verlangt nach Liebe und fürchtet sich davor. Sie lockt mit kokettem Fingerspiel, gibt sich in zarten, fließenden Bewegungen ihren Träumen hin und explodiert förmlich in einem rasenden Wirbel aus Angst und Wut. Ihre Irrsinnsdrehungen auf Knien erreichen die Grenzen des physisch Möglichen und behalten bei aller Bodenhaftung eine wunderbare Schwerelosigkeit.

In den leuchtend blauen und schwarzen Tüllwolken ihres Rockes scheint sie sich aufzulösen, bis sie mit einem entschuldigenden "I am so sorry" wieder zur Vernunft kommt. Doch das Immer und Nie ihres unstillbaren Verlangens holt sie wieder ein. Eine brillant getanzte, emotional berührende Reise ins gefährliche Niemandsland der Leidenschaft. Tennysons schöne Lady starb vor dem Ziel, Kanellopoulous poetische Reflexion bleibt verstörend lebendig.

Witzig erkundet die junge Slowakin Lucia Kasiarová, die als Neuentdeckung der europäischen Choreografie-Szene gilt, das Leben auf der Bühne. Die Musik zu ihrem Solo "ALA III" liefern die Handys im Publikum. Ausdrücklich bittet sie einige Zuschauer, die Signaltöne ihrer Mobiltelefone laut mitspielen zu lassen. Ein amüsanter Effekt in der Künstlerwelt aus harter Disziplin und freier Fantasie, die sie mit lustvoller Selbstironie in Frage stellt.

Sie scheint zu schweben auf der weißen Tanzfolie, unter die Luft gepumpt ist, so dass ihre Schritte immer wieder sanft einsacken. Manchmal möchte sie verschämt flüchten, kehrt aber immer wieder zurück in den Kunstraum, der Fiktion und Wirklichkeit zugleich ist. Sie probiert Tanzfiguren aus, versucht ihren Körper als Objekt in Bewegungen zu zwingen, die sie als fremde von sich abschüttelt. Sie packt Schuhe aus, ihre Füße verweigern sich.

Am Ende schiebt sie kindlich lächelnd ein Paar winziger roter Schuhe vor sich her. Das Künstlerdasein als Illusion und selbstbewusstes ständiges Spiel damit - ein reizvoller, heiterer Kontrast zum ersten Teil des mit viel Beifall im restlos ausverkauften Ballsaal bedachten Abends.

Das Festival mit mehreren Deutschland-Premieren läuft noch bis zum 26. Februar. Wegen des großen Interesses ist es ratsam, Karten unter der Telefonnummer (02 28) 79 79 01 zu reservieren.

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