Martin Blessing: Die Aufklärung verschleppt und ausgebremst

Gespräch mit dem mit dem Psychologen und Therapeuten über Opfer-Täter-Konstellationen auch am Ako

 Auch Martin Blessing war Internatsschüler am Ako

Auch Martin Blessing war Internatsschüler am Ako

Foto: Privat

Bonn. Martin Blessing ist Psychologe und Therapeut. Der 51-Jährige war Internatsschüler am Aloisiuskolleg in Bad Godesberg. Über die Opfer-Täter-Konstellation auch am Ako sprach mit ihm Ebba Hagenberg-Miliu.

General-Anzeiger: Sind Missbrauchsopfer überhaupt glaubwürdig, wenn sie sich erst viele Jahre nach den Taten melden?

Martin Blessing: Ich halte die Aussagen der Ako-Opfer für vollkommen glaubwürdig, denn erstens hatten Eltern, Lehrer und Geistliche früher eine viel unanfechtbarere Position inne als heute. Zweitens gab es lange keine verfügbare Sprache für sexuelle Handlungen und damit eben auch für sexuelle Gewalt. Und drittens ist eine homosexuelle Misshandlung durch einen gleichgeschlechtlichen Täter für Männer mit besonders großer Scham besetzt.

GA: Warum fühlen sich auch in den Ako-Fällen die Opfer schuldig und nicht die Täter?

Blessing: Aus dem gleichen Grund, aus dem Opfer körperlicher Misshandlung sich schuldig und "böse" fühlen. Die Erwachsenen sind quasi per Definition "gut". Infolgedessen glaubt das Kind, es müsse wohl irgendwie selbst verschuldet haben, was ihm angetan wurde. Pädosexuelle Täter verstärken diese Tendenzen nicht nur durch Schweigegebote und Drohungen, sondern stempeln das Opfer auch sehr geschickt als schmutziges und sündiges kleines Ding ab, das niemand liebhaben werde, wenn es je über den Missbrauch berichte.

GA: Aber wie verbuchen gerade Priester solche Taten?

Blessing: Pädosexuellen Tätern mit religiösem Hintergrund gelingt es in ihrer "psychischen Buchhaltung", das kindliche Opfer zum "Agenten des Satans" umzudefinieren, der einen edlen Menschen zur Sünde verführt - ein Abwehrmechanismus, der durchaus in der aktuellen Diskussion zwischen den Zeilen anklingt.

GA: Sie erkennen im Aufarbeitungsprozess am Ako und im Jesuitenorden Mechanismen wie in einer "normalen" Missbrauchsfamilie wieder?

Blessing: Ja. Wirklich schlimm und beschämend finde ich, wie sich die kirchlichen Körperschaften trotz ihres beanspruchten moralischen Hirtenamtes und ihrer besonderen Fürsorgepflicht für die Erniedrigten und Beleidigten lange Zeit ganz genauso verhalten haben wie der durchschnittliche pädosexuelle Straftäter oder die "normale" Inzestfamilie: verleugnen nach innen und leugnen nach außen, Glaubwürdigkeit und Motive der Opfer infrage stellen, den Skandal so lange wie irgend möglich intern halten - und dann, wenn es gar nicht mehr anders geht, nach außen hin reuig Aufklärung versprechen, diese aber weiterhin mit allerlei "Verfahrenstricks" hinter den Kulissen verschleppen, ausbremsen und aussitzen.

Zur PersonMartin Blessing machte 1977 Abitur am Aloisiuskolleg in Bad Godesberg. Der 51-Jährige ist Diplom- Psychologe. Er promovierte 1989 über "Missbrauch, Inzest und Psychose". Blessing ist leitender Psychologe am Kinderkrankenhaus St. Marien in Landshut.

GA: Wie haben Sie als Internatsschüler am Ako den im Juli verstorbenen Ex-Schulleiter erlebt.

Blessing: In Erinnerung habe ich ihn als autoritären Patriarchen mit bedrohlicher Aura, der sich in der Rolle eines barocken "Kirchenfürsten" gefiel. Von sexualisierter Gewalt habe ich nichts gehört. Ich war aber auch nur bis 1977 Schüler.

Lebhaft in Erinnerung sind mir seine unberechenbaren Ausbrüche körperlicher Gewalttätigkeit, und zwar ganz öffentlich. Auf der Habenseite des Paters steht zweifellos, dass er für Erhalt und Entwicklung des Internats sehr viel geleistet hat - vielleicht hatte er deshalb auf seine alten Tage beim Träger Narrenfreiheit.

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