"Ich will als Opfer gehört werden"

50 Jahre danach: Ein missbrauchter Ex-Internatsschüler sucht und findet den Dialog mit dem Aloisiuskolleg.

Bad Godesberg. "Dass mich meine Familie hier begleitet, tut mit unglaublich gut", sagt der 59-Jährige, der da vom Aloisiuskolleg (Ako) aus auf den Eingangsbereich blickt. "Diese Tür nach draußen war damals immer mein Tor in die Freiheit", kommt dann leise und "mit Gänsehautgefühl" von dem Mann, der mit Frau und Sohn von weit her ins Ako angereist ist.

Vor knapp 50 Jahren ist der damals Zehnjährige in diesem Gebäude von einem Jesuitenpater über Monate missbraucht worden. Er hatte den nackten Erzieher immer wieder befriedigen müssen. Er wisse, dass er am Ako viel geboten bekam, sagt der Mann. Der viel zu hohe Preis sei aber diese "Beschädigung" gewesen.

Seit Jahrzehnten wache er, der selbst Konfliktberater geworden ist, schreiend aus Träumen auf. Es sei immer die "Todesbedrohung" dieses Paters in seiner Seele gewesen, die sich "wie festgefroren" angefühlt und die er tagsüber verdrängt habe. "Und wir haben das mitgetragen, ohne den Grund dafür zu wissen, ohne helfen zu können", ergänzt die Frau des Opfers.

Den 59-Jährigen hat es an diesem düsteren Maitag einiges gekostet, das erste Mal wieder sein Internat zu betreten. Gerade hat er mit Ako-Pater Philipp Görtz geredet. Eine ganze Reihe dieser vertraulichen Gespräche mit Betroffenen, die jetzt aufs Ako zukommen, hat der junge Pater schon geführt: "als Vertreter des Kollegs, aber auch als Seelsorger".

Manche wollten sogar in Kontakt bleiben. "Wir haben noch nicht erlebt, dass eins dieser Gespräche gescheitert ist", präzisiert Ako-Sprecher Robert Wittbrodt. Und geht ebenfalls auf das Opfer zu. Wittbrodt hat ihm den Präventionsleitfaden mitgebracht, an dem die Schule gerade mit den städtischen Ämtern arbeitet.

Das Kolleg bittet den Ex-Schüler also um Kooperation - und der 59-Jährige nimmt das Angebot an. "Ich bin hierher gekommen, um etwas zu hinterlassen. Ich will als Opfer gehört werden." Etwa auch darüber, welche verzweifelten Signale missbrauchte Kinder aussenden, die damals in seinem Fall weder Eltern noch Schule deuten konnten. "Ich kann darüber berichten."

Der Mann zeigt auf einen Schatz an Briefen, die er bis vor ein paar Wochen unberührt verwahrt hatte und aus denen er eben dem Pater weinend vorlas. Görtz wiederum hat so von einem weiteren übergriffigen Jesuiten erfahren, den das Kolleg bislang nicht im Zwischenbericht aufführt. Damit hätte sich die Täterzahl von sechs auf sieben Jesuiten erhöht.

"Und ich weiß nun, dass mein Täter noch lebt. Er steht noch in Kontakt zum Ako", erzählt der 59-Jährige und schluckt. Jetzt müsse unbedingt nachgeprüft werden, wo dieser Jesuit, der 1961 das Kolleg verließ, noch weiter in Jugendarbeit tätig war, verlangt das Opfer. Und weiß, dass der heutige mutige Gang wichtig für sein weiteres Leben sein wird.

In der Ako-Zeit habe er mit Theaterspiel "überlebt". Als junger Mann habe er dann einmal vor Eltern und Geschwistern über die Missbrauchserlebnisse ausgepackt - und nur peinliches Schweigen geerntet.

Genau diese Erfahrung will er in den nächsten Tagen mit der Familie bereinigen. Und dann einen Anwalt nehmen. Der 59-jährige Therapeut ist, seit er mit dem Horror seines Lebens reinen Tisch macht, selbst in Therapie. "Und dafür soll mir der Orden eine Entschädigung zahlen."

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