Ein Jahr Missbrauchsskandal Ein Jahr Missbrauchsskandal: "Wir Jesuiten haben in Abgründe geschaut"

Am 17. Juli wird Pater Johannes Siebner am Aloisiuskolleg (Ako) als neuer Rektor eingeführt. Mit dem derzeitigen Rektor am Kolleg St. Blasien sprach Ebba Hagenberg-Miliu.

Ein Jahr Missbrauchsskandal: Ein Jahr Missbrauchsskandal: "Wir Jesuiten haben in Abgründe geschaut"
Foto: GA

General-Anzeiger: Zuerst à la Fragebogen der FAZ: Welche Eigenschaft schätzen Sie an sich am meisten?

Pater Johannes Siebner: Oh je, das fängt ja gut an. Ich schätze, das erste öffentliche Wort im neuen Umfeld sollte keine Selbsteinschätzung sein. Ich mag dennoch eine Eigenschaft nennen, die mir wichtig ist, die ich einübe, die ich sehr schätze, die aber eben auch anstrengend sein kein: Gelassenheit, die aus Vertrauen kommt.

GA: Sie waren zwar Schüler am jesuitischen Canisius-Kolleg in Berlin, traten 1983 aber doch überraschend in den Orden ein. Warum?

Siebner: Mein Wunsch war es, Priester zu werden. Das stand am Beginn des Entscheidungsweges, der mich dann, tatsächlich zu meiner eigenen Überraschung, im Herbst 1983 ins Noviziat der Jesuiten nach Münster geführt hat. Ausschlaggebend waren wohl zum einen einzelne Jesuitenpatres, die mich in der Jugendarbeit sehr geprägt haben, und zum anderen die Entdeckung des Heiligen Ignatius, des Ordensgründers.

GA: Nach dem Philosophie-, Theologie- und Ethikstudium haben Sie auch in einem vietnamesischen Flüchtlingslager gearbeitet: eine wichtige Lebensstation?

Siebner: Oh ja. Das Leben und Arbeiten mit den Flüchtlingen im Lager hat, so bin ich heute sicher, mein Leben maßgeblich beeindruckt. Das Erleben von Herzlichkeit und Gastfreundschaft in allergrößter Not ist eine nachdrückliche Erfahrung. Und ich habe erfahren, dass es von großer Bedeutung ist, zuerst mit den Armen zu sein und ansatzweise ihr Leben zu teilen, als unbedingt für sie da zu sein.

GA: Nach neun Jahren Direktorenamt am Kolleg St. Blasien: Was nehmen Sie mit zum Ako?

Siebner: Physikalisch gesprochen? Das wird wohl alles in einen großen Kombi passen. Aber das meinen Sie nicht. Mein Vorsatz ist: so wenig wie möglich. Ich möchte mich vor allem auf neue Menschen und neue Beziehungen einlassen; so wie ich auch lieb gewordene Beziehungen hinter mir lasse. Die Aufgaben sind sich sehr ähnlich. Umso mehr werde ich mir Mühe geben, nicht ständig zu sagen: In St. Blasien haben wir das aber so und so gemacht.

GA: Auch in St. Blasien hat es Missbrauchsfälle gegeben. Sind Sie mit dem Stand der Aufklärung zufrieden? Haben Sie Kontakt zu Betroffenen?

Siebner: Wie soll ich zufrieden sein? Es liegt leider noch immer kein abschließender Bericht vor, auch wenn wir uns zusammen mit der Missbrauchsbeauftragten der Jesuiten sehr darum bemühen. Die Vorfälle aus den 50er und 60er Jahren sind nur schwer wirklich aufzuklären; es gilt, allen Betroffenen einigermaßen gerecht zu werden. Der Prozess der Aufklärung und auch dessen lange Dauer sind vor allem für die Opfer sehr schmerzlich. Für einige ist es wie eine weitere Traumatisierung.

Der Prozess der Aufklärung ist aber für viele Vorfälle bereits abgeschlossen. Einige Opfer bedanken sich für die Art und Weise unseres Vorgehens, einige verstummen dem Orden und dem Kolleg gegenüber. Es gibt auch Bitterkeit und Enttäuschung, das will ich nicht verschweigen. Selbstverständlich habe ich über all die Monate intensiven Kontakt mit Betroffenen gehabt.

GA: Im Gegensatz zu denen in St. Blasien reichen die Ako-Missbrauchsfälle bis in die Gegenwart. Stehen Sie da nicht vor einer ungleich schwierigeren Aufgabe?

Siebner: Das kann ich beim besten Willen nicht einschätzen. Ich stelle mich meiner neuen Aufgabe dann, wenn ich sie übernehme, also Mitte Juli. Kommentare oder gar Bewertungen aus der Ferne stehen mir nicht zu.

GA: Im Februar wird der Abschlussbericht der unabhängigen Ako-Aufklärungskommission veröffentlicht. Was erwarten Sie an Neuem?

Siebner: Ich habe den Bericht vom Oktober aufmerksam studiert und gehe davon aus, dass Professor Julia Zinsmeister und ihr Team sich der Aufgaben angenommen haben, die sie angekündigt haben.

GA: Sie beschäftigt das Thema Nähe und Distanz im Schul- und Internatsalltag. Welche Lehren sind aus den Missbrauchsfällen zu ziehen?

Siebner: Zum einen sind da so viele "Lehren", dass der Interviewplatz nicht hinreichend ist. Zum anderen weise ich immer wieder darauf hin, dass sicher noch nicht alle Aspekte und Konsequenzen im Blick sind. Die Betroffenen, die jetzt endlich sprechen, haben uns in Abgründe schauen lassen, die sich uns Jesuiten, der Kirche und allen institutionellen Akteuren in Bildung und Erziehung noch nicht zur Gänze erschlossen haben. Im Übrigen empfehle ich sehr den Leitfaden zur Prävention vom Ako.

GA: Was ist darin für Sie besonders wichtig?

Siebner: Was mich besonders anspricht, ist die Tatsache, dass der Leitfaden in einem sehr lebendigen und intensiven Prozess entstanden ist. Ich habe den Eindruck, dass dieser intensive Prozess womöglich schon der entscheidende Schlüssel guter Prävention ist. Das Unaussprechliche ist jetzt aus- und ansprechbar. Wir haben Worte und Wörter, um über Machtmissbrauch und sexualisierte Gewalt zu reden, und auch Instrumente, um zu handeln.

GA: Ihre erste Priorität ist es, die Perspektive der Opfer einzunehmen. Sie saßen mit am Verhandlungstisch mit den Betroffenen. Wie planen Sie, auf die Ako-Opfer zugehen?

Siebner: Zuhören, Vertrauen und eine deutliche Präferenz, das Erzählte als wahr anzunehmen. Das hat sich bewährt. Ich bin aber nicht einmal initiativ auf einzelne Betroffene zugegangen. Bis auf einzelne Kontakte am Eckigen Tisch in Berlin hatte ich bisher kaum Kontakt mit Opfern des Ako. Auch hier warte ich ab, bis ich tatsächlich in Godesberg bin.

GA: Die aktuellen Ako-Schüler, -Lehrer und -Eltern machen seit bald einem Jahr einen wahren Albtraum durch. Wie sehen Sie da Ihre Aufgabe?

Siebner: Stellen Sie mir diese Frage doch bitte im Juli. Ich bin noch in der Verantwortung als Kollegsdirektor in St. Blasien.

GA: In Berlin aufgewachsen, jetzt über Jahre im kleinstädtischen St. Blasien: Freuen Sie sich aufs Rheinland?

Siebner: Ohne Schmeichelei: ich habe mich wirklich sehr wohl gefühlt in St. Blasien. Aber es stimmt, dass ich Großstädter bin, und da hat mir auch einiges gefehlt. Ich bin gespannt auf Bad Godesberg und auf das Rheinland. Ein Mitbruder hat mir schon angekündigt, dass er mich ab und an ins Kino schleppen wird; das ist hier im Südschwarzwald als spontane Aktion kaum möglich.

Und ungefähr fünf Erstliga-Fußballstadien in weniger als 100 Kilometern Umkreis finde ich auch nicht gerade unattraktiv. Wir werden sehen. Im Moment überwiegt etwas die Wehmut im Blick auf den baldigen Abschied hier. Aber, ja: Ich freue mich auf das neue Umfeld und lerne gerade: "et kütt wie et kütt".

Zur PersonDer 49-jährige Pater Johannes Siebner wird im Rahmen einer Personalrochade an den drei deutschen Jesuitengymnasien im Juli am Ako den jetzigen kommissarischen Rektor Pater Ulrich Rabe ablösen. Siebner ist Absolvent des Berliner Canisius Kollegs, in dem der Missbrauchsskandal im Januar 2010 losbrach. Seit 2002 leitet er das 900-Schüler-Kolleg und Internat St. Blasien im Schwarzwald. Von 2006 bis 2009 stand Siebner dem Verband Katholischer Internate und Tagesinternate vor.

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