Schabowski ließ Pferdefuß im Dunkeln

Zum Artikel über den Mauerfall vor 25 Jahren und die denkwürdige Pressekonferenz

Auch Ihrem Autor Norbert Wallet ist nicht bekannt, dass Schabowski auf seiner legendären Pressekonferenz von den sieben Sätzen auf seinem ominösen Zettel lediglich vier verlesen und bei einem fünften eine wesentliche Auslassung vorgenommen hatte. Deshalb kann man nicht, wie dies Herr Wallet tut, ohne Einschränkungen formulieren, Schabowski habe "die Lauter-Sätze über Privatreisen vorgelesen".

Es handelte sich um drei Sätze über West-Besuchsreisen, die eine vierköpfige Arbeitsgruppe aus MdI und MfS, also nicht nur Herr Lauter, formuliert hatte. Die beiden ersten Sätze las Schabowski aus seinem Zettel vor, den dritten, wichtigen Satz brachte er vorsichtshalber nicht über seine Lippen: "Versagungsgründe werden nur in besonderen Ausnahmefällen angewandt."

Diese Auslassung war deshalb von größter Bedeutung, weil der vorhergehende Satz lautete: "Die Genehmigungen werden kurzfristig erteilt." Jetzt musste der Eindruck entstehen, dass es keine Versagungen gäbe, dass alle Reisewünsche ausnahmslos und kurzfristig erfüllt werden würden. Kein Wort von schriftlicher Prüfung der Reiseanträge, kein Wort von Ablehnung.

So hatte es aber die Staatsmacht gemeint. Die wachsweiche Formel sollte es ihr ermöglichen, Reiseanträge nach Belieben und ohne weitere Begründung abzulehnen. Schabowski hatte es geschafft, diesen Pferdefuß der neuen Regelung im Dunkeln zu lassen. Seine denkwürdige Taktik ist auch 25 Jahre nach dem Mauerfall den Wenigsten bekannt.

Dr. Hans Henning Kaysers, Bonn

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