DFB-Elf Noch viel Luft nach oben

Lille · Zwar gab Bastian Schweinsteiger mit seinem Treffer in der Nachspielzeit ein gelungenes Comeback, zu den Leistungsträgern zählten aber beim 2:0 der DFB-Elf über die Ukraine andere. Nur Neuer, Boateng und Kroos genügen allerdings nicht den Ansprüchen des Weltmeisters

Es lässt sich nur erahnen, dass diese zwei Sprints doch sehr schmerzhaft gewesen sein müssen für einen nicht mehr ganz jungen, verletzungsgeplagten Spieler wie ihn. Sorgen machen musste man sich jedoch nicht. Es waren ja die ersten beiden Sprints, die Bastian Schweinsteiger in diesem Spiel anzog. Der Kapitän der Nationalmannschaft raste also im Höchsttempo 40, 50 Meter die rechte Außenlinie entlang Richtung gegenerisches Tor, hob wildentschlossen den Finger, schoss den Ball nach Özils Pass mit der Selbstverständlichkeit eines sonntäglichen Kirchturmschlags hinein - und raste, hochgradig erfreut, wieder zurück. Manche Spötter meinten später: Für einen leicht ergrauten Midlife-Typen eine reife Leistung in einem reiferen Alter.

Nun ist Schweinsteiger erst 31 Jahre alt. Aber die vergangenen Monate waren nicht einfach für ihn. Er fehlte seinem Club Manchester United und der Nationalmannschaft seit Januar wegen einer Knieverletzung, nur unterbrochen durch ein Kurzintermezzo im März. Nicht wenige hatten ihn abgeschrieben für das Turnier in Frankreich. Doch dank seiner unerschütterlichen Zähigkeit - dieses Bild hat sich eingeprägt seit dem blutigen Finale von Rio - und des Vertrauens von Bundestrainer Joachim Löw scheint er spätestens seit der Partie gegen die Ukraine wieder anschließen zu können an frühere Heldentaten.

Keine Frage, er ist noch nicht der alte Kämpfer und Lenker. Zumindest aber befindet er sich, so heißt es aus dem Kreis der Nationalmannschaft, auf einem sehr, sehr guten Weg. Mit seinem späten Treffer zum 2:0 hatte der eingewechselte Kapitän bei seinem Kurzeinsatz natürlich Aufsehen erregt, vor allem aber hat er gezeigt: Seht her! Hier bin ich wieder! Ihr müsst mit mir rechnen!

Dafür genügten ihm zwei Zuspiele, zwei Sprints - und ein Treffer in einem Spiel, dass von geradezu Schweinsteiger'scher Zähigkeit geprägt war. In diesem Moment kam eine Magie auf, die die Deutschen zuvor in anderthalb Stunden weitestgehend vermissen ließen. Wenig später in der Journalistenzone zeigte sich Schweinsteiger weit weniger temperamentvoll als bei seiner Forrest-Gump-Einlage. Er schlenderte an den Fragestellern vorbei. Und sprach nicht. Kein Wort. Vielleicht hatte ihm in diesem Moment der Genugtung auch einfach die Puste gefehlt - diese verdammt zermürbenden Sprints!

Unnötig kompliziert

Etwas redseliger präsentierte sich das schon Toni Kroos, der in die Rolle Schweinsteigers als Ballverteiler und Boss mehr und mehr hineinwächst. Ja, fürs Selbstvertrauen, sagte er, sei dieses Spiel gut gewesen. Immerhin, man habe "kein Gegentor kassiert", und "wir sind jetzt schlauer". Aha, und was genau ist am Donnerstag im kommenden Gruppenspiel gegen die Polen zu beachten? "Wir haben das in den 15 Minuten vor der Pause nicht gut gemacht, da hatten die Ukrainer Chancen zum Ausgleich." Und tatsächlich gestalteten die zunächst überzeugenden Deutschen den Sieg gegen die Osteuropäer komplizierter als nötig. Fehler in der Vorwärtsbewegung, Fehler in der Rückwärtsbewegung, zu viel Platz für die schnellen Gegenspieler: "Wir sind noch nicht dort, wo wir hin müssen, um dieses Turnier zu gewinnen", meinte Kroos. Leicht ließe sich hinzufügen: noch lange nicht.

Gleichwohl gab es Phasen und Augenblicke, die denen die Mannschaft ihr kolossales Potenzial erkennen ließ. Phasen, in denen Toni Kroos - grob geschätzt - 1987 Pässe spielte, von denen 1987 Pässe ankamen. In denen, wie der überzeugende Real-Star erkannte, "der Ball lief", in denen "die Zwischenräume besetzt" wurden. Es waren recht anschauliche Momente in der ersten halben Stunde und in weiten Teilen der zweiten Hälfte. "Wir haben vor allem nach dem Wechsel den Ball und den Gegner gut laufen lassen", sagte Löw, "haben klar dominiert."

Einen nicht geringen Anteil an dieser Vorherrschaft besaß auch Kroos. Dass dieser fast unfehlbare Passgeber mit der Ruhe eines buddhistischen Mönchs allerdings ebenfalls Schwächen hat, ist bekannt. Es gibt sogar Zyniker unter den professionelle Beobachtern der Nationalmannschaft, die behaupten: Kroos ist zum Weltklassespieler gereift, ohne einen einzigen Sprint angezogen zu haben. Doch dafür hat Löw ja jetzt Schweinsteiger. Tatsächlich aber gehört Kroos zu jenen Spielern, die sich bei hohen Bällen lieber klein machen. Überhaupt war in der Partie gegen die Ukraine auffällig, dass deren Standards immer wieder Gefahr für das deutsche Tor hervorriefen. "Dort hatten wir Probleme", erkannte Löw völlig zurecht, "in der zweiten Hälfte haben wir es besser gemacht."

Zuvor aber zeigte sich die andere Seite der Medaille: Insbesondere Torwart Manuel Neuer und der großartige Jerome Boateng waren es, die mehrmals als Retter in höchster Not fungierten. Auffällig, dass die Ukrainer überhaupt so häufig zu Chance kamen. Die Sprints zurück waren für die Offensivkräfte wie Mesut Özil und Julian Draxler in etwa so reizvoll wie ein mehrmonatiges Rehaprogramm. Einer kann diese Verweigerungshaltung wohl gar nicht nachvollziehen: Bastian Schweinsteiger. Er offenbarte später, dass es auch besser geht. Allerdings nur zwei Mal.

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