Interview über die Bedeutung von Büdchen Museumsleiter Dietmar Osses: "Das ist das Leben pur"

Bonn · Mit dem Ende des Kohleabbaus und dem Wegfall des Schichtwechsels begann der wirtschaftliche Überlebenskampf der Trinkhallen. Für Museumsleiter Dietmar Osses passen sie trotz allem perfekt in unsere Zeit.

Fußläufig zu Elkes Bude arbeitet Dietmar Osses als Leiter der stillgelegten Zeche Hannover, heute ein Industriemuseum. In Ausstellungen zu Brieftauben, Reviersport oder Fußball und Migration im Ruhrgebiet stellt er mit seinem Museumsteam zahlreiche Facetten der Industriekultur vor. Den Trinkhallen im Ruhrgebiet fühlt er sich besonders verbunden. Jasmin Fischer sprach mit ihm.

Was ist für Sie das Faszinierende an Büdchen?

Dietmar Osses: Büdchen sind typisch Ruhrgebiet! Architektonisch oft dazwischengequetscht, sind sie Räume, die gelebt werden. Auf die Menschen kommt es nämlich an: Sie arbeiten im Umfeld, oft lang und hart, und weil das so ist, herrscht ein ständiges Kommen und Gehen unter den Kunden. Wer Zeit für ein Quätschchen hat, schafft gleich eine informelle Gesprächssituation. Das ist das Leben pur.

Wie sind die Büdchen entstanden?

Osses: Ursprünglich waren Trinkhallen ein Luxus für Gutbetuchte. Um 1820 beobachten wir, dass sie in der Eifel, im Taunus und bei Frankfurt gegründet werden und aus Mineralwasserquellen abgefülltes Heilwasser verkauften. Über das Bergische Land, Elberfeld, Wuppertal zieht das Phänomen Trinkhalle schließlich ins Ruhrgebiet und nach Berlin.

Ist das die Demokratisierung des Büdchens?

Osses: Noch nicht ganz! Es ging in Wuppertal oder im Ruhrgebiet, wo es zu Zeiten der frühen Industrialisierung große Probleme mit verschmutzten Trinkwasser gab, nicht um Heilwasser für alle - es ging schlicht darum, den Bedarf an reinem Wasser zu decken. Bis dato löschten die Arbeiter ihren Durst nämlich mit Bier oder Hochprozentigem, weil diese Getränke keimfrei waren. Viele Unternehmer bezahlten ihre Arbeiter sogar mit Bier und Schnaps. Doch den Stadtvätern, die zunehmend die Gesundheit der Arbeiterschicht im Blick hatten, war dabei nicht wohl. Ihnen kam zupass, dass um 1820 in Berlin ein Patent entwickelt wurde, künstliches Mineralwasser - also reines Wasser, versetzt mit Kohlensäure - zu schaffen. Der Durchbruch kam 1850, 1860: Die ersten großen Betriebe, darunter Krupp in Essen, richteten Trinkhallen an ihren Werkstoren ein, bei denen Arbeiter reines Wasser bekamen. Der Verzehr von Alkohol wurde an Arbeitsplätzen mit großen Walzen und Hämmern verboten. Nur Arbeiter an Hochöfen durften weiter Schnaps trinken. Macht aus heutiger Sicht keinen Sinn, aber so war es.

Wenn die Büdchen so sehr mit Kohle, Stahl, Zechen und Werken verbunden sind, wie sind sie dann nach Berlin oder Köln gekommen?

Osses: Überall, wo viele Menschen in großen Industriebetrieben gearbeitet haben, sind auch Büdchen entstanden. Die kleinen, flexiblen Verkaufsstellen des Ruhrgebiets sind aber schon einzigartig, auch, weil sie oft mitten in Bergarbeitersiedlungen aufmachten. Diese Siedlungen muss man sich ja oft wie kleine westfälische Dörfchen vorstellen: Häuser mit tief gezogenen Dächern, Gärten, guter Nachbarschaft. Die Trinkhalle war und ist der Ort, an dem sich Stammkunden und Laufkundschaft trafen. In diesen Vierteln finden sie die Buden auch heute noch oft. Die heutigen "Spätis" in Berlin sind häufiger Franchise- als Individualunternehmen, haben ein einheitliches Sortiment. Das Sortiment der Ruhrgebietsbuden richtet sich nach dem, was im Viertel nachgefragt wird. Eine Bude im Dortmunder Unionsviertel etwa bietet ein riesiges Alkoholsortiment an. Andere führen Konserven und Mirácoli fürs berufstätige Feierabendklientel. Vor der Ära der strengen Lebensmittelverordnungen gab es im Büdchen auch saure Gurken, Rollmops und Soleier aus großen, offenen Fässern...

Wie ist denn der Alkohol in die eigentlich nüchternen Trinkhallen an den Werkstoren gekommen?

Osses: Um 1900 gab's das Wasser an der Trinkhalle und den Alkohol in der Eckkneipe, also einer Schankwirtschaft. Aber die cleveren Büdchenbesitzer merkten schnell, dass sie mehr Geld verdienen könnten, wenn sie nicht nur Wasser, sondern auch Flaschenbier zum Mitnehmen verkaufen würden. Es herrschte ein knallharter Konkurrenzkampf zwischen Büdchen und Eckkneipe. Aus der Zeit stammt noch immer die Regel, dass direkt am Büdchen kein Bier verzehrt werden soll. Aber das hat ja noch nie so richtig funktioniert!

Wie geht es der Büdchenkultur heute? Gehen Trinkhallen unter wie einst die Tante-Emma-Läden?

Osses: Naja, das Ruhrgebiet erlebt seit 1958 zyklische Krisen, das merken auch die Büdchen. Der Bergbau hat sein Ende gefunden und damit haben Sie keinen Schichtwechsel mehr, bei dem 5000 Menschen auf der Straße sind und eine Erfrischung brauchen. Hinzu kommt, dass Supermärkte seit 2006 länger öffnen dürfen; immer mehr Tankstellen bieten zudem ein großes Sortiment 24 Stunden am Tag an. Ich beobachte trotz dieser Trends allerdings, dass Menschen das Büdchen in ihrem Viertel pflegen und bewusst dort einkaufen, um es zu erhalten. Sie haben dank ihrer Kindheitserinnerungen noch einen sentimentalen Zugang zur Bude und gehen hin. Man muss ja nur "Gemischte Tüte" sagen und schon läuft vielen Leuten das Herz über.

Passt das Büdchen denn überhaupt noch in unsere Zeit?

Osses: Viele Büdchen probieren neue Überlebensstrategien aus. Weil die Post ihr Filialnetz ausdünnt, übernehmen sie diese Aufgabe. Und das passt - siehe Online-Shopping und Paketflut - absolut in unsere Zeit. Viele Trinkhallen werden mittlerweile außerdem von Zuwanderern betrieben. Das freut mich sehr. Wie es früher üblich war, führen sie die Trinkhallen häufig im Familienverbund, verbunden mit dem Verkauf internationaler Telefonkarten. Das ist traditionell und gleichzeitig sehr modern! Das Büdchen war schon nach den großen Kriegen und in der Hochphase des Bergbaus auch Versorgungsinstrument für die Besitzer. Häufig führten Witwen die Trinkhallen, weil ihre Männer gefallen oder unter Tage geblieben waren und ihre Rente nicht reichte. Auch Bergleuten, die zu Invaliden geworden waren, hatten mit einem Büdchen ein stabiles Auskommen, wenn auch auf niedrigem Niveau.

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