Der diskrete Charme des britischen Wahlkampfs

Auf Kontaktsuche zum Bürger: Die Politiker auf der Insel putzen am liebsten die Klinken der Wähler. Plakate sucht man vergebens

Neulich in Glasgow. Auf dem St. Enoch Square in der Innenstadt soll in 25 Minuten eine Kundgebung des Chefs der schottischen Labour-Partei, Jim Murphy, beginnen. Die Briten nennen sie "rally". Es herrscht Wahlkampf und die Sozialdemokraten haben ihn in Schottland bitter nötig, immerhin deuten alle Umfragen darauf hin, dass die Schottische Nationalpartei (SNP) einen Erdrutschsieg in der ehemaligen Labour-Hochburg einfährt.

Doch noch sind weder eine Bühne noch das Bühnenvolk zu sehen. Am Rande lungern zwei Kameraleute der BBC herum. Sind wir richtig? Für die Vertreter der Auslandspresse war es fast ein Ding der Unmöglichkeit, von dem Termin zu erfahren. E-Mails blieben unbeantwortet, Telefonanrufe wurden in typisch britischer Manier freundlich-genervt abgewiesen. Für den Wahlkampf geht die lokale und nationale Presse vor. Natürlich. Und trotzdem befremdlich.

Dann tauchen etwa 30 junge Menschen auf dem Glasgower Platz auf, eine Frau trägt einen Karton, aus dem Dutzende T-Shirts in Rot und Gelb, Grün, Lila und Blau gezogen werden. Die aufgedruckten Slogans sind dem Parteiprogramm entnommen. Zwei der allzu offensichtlichen Labour-Mitglieder stecken eine Ein-Quadratmeter-große-Bühne zusammen, sie erhebt sich nur einige Zentimeter über den Boden. Dann positionieren sich die T-Shirt-Träger um drei Seiten. Eine Frau gibt die Choreografie vor, alle rücken zusammen, halten Schilder, auf denen weitere Labour-Sprüche prangen, nach oben. Mittlerweile sind 20 Journalisten und Fotografen eingetroffen, sie warten an einer Seite der Bühne.

Aber wo sind die Wähler, die überzeugt werden sollen? "Das ist bei allen Parteien dasselbe", versichert ein BBC-Reporter den erstaunten Beobachtern aus Deutschland. Diese Veranstaltungen seien nur für die Presse konzipiert. Für gute Bilder. Für kurze Statements vor der Kamera. Um Passanten geht es hier nicht. Dann stolziert der Kandidat über den Platz, eine Hand locker in der Hosentasche, die andere ist im Winkmodus eingefroren.

Jim Murphy tritt auf die Mini-Bühne, um ihn herum klatscht und johlt seine Fan-Meute, die er vorsichtshalber selbst mitgebracht hat. Die Journalisten filmen und spielen das Spiel mit. Interviews gibt Murphy erst, als er von der Bühne tritt und gehen will. Er läuft in Kreisen über den Platz, die Journalisten hinterher, jeder Vertreter der wichtigen Medien bekommt an einer anderen Stelle ein paar Minuten Fragezeit. Also beantwortet er in sechs Runden dieselben Fragen mit denselben Antworten. Dann ist Murphy weg. Und der Platz sieht abermals nicht so aus, als würde demnächst die Parlamentswahl anstehen.

Wo sind eigentlich die Wahlplakate? Wer durch Manchester, Glasgow oder London spaziert, könnte meinen, die Briten sind politisch im Tiefschlaf versunken. Keine mit den Konterfeis der Politiker gepflasterten Litfaßsäulen, keine Plakatalleen an Hauptverkehrsstraßen, keine Ankündigungen für Wahlkampfveranstaltungen. Warum auch? Die meisten britischen Politiker, die sich um einen Unterhaussitz bewerben, ziehen den Tür-zu-Tür-Wahlkampf vor, geben TV-Sendern und Zeitungen Interviews, halten Reden bei ihnen wohlgesonnenen Institutionen, Organisationen und Unternehmen.

Selbst im Wahlkreis von Premier David Cameron in Witney in der Grafschaft Oxfordshire deutet erst einmal nichts darauf hin, dass der Konservative hier als Kandidat für die Tories antritt. Dann, am Ausgang der Kleinstadt Woodstock, in kleines, rechteckiges Schild. Es kommt eher wie ein Ortsschild daher, das bei genauer Betrachtung nämlich fehlt. Kann das sein? Ein Örtchen namens "David Cameron"? An solche Wahlplakate müssen sich Zugezogene in Großbritannien erst einmal gewöhnen.

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