25 Jahre Geiseldrama von Gladbeck Drei Tage im August

Gladbeck · Der Plan ist einfach: rein, raus, weg. Vor 25 Jahren beschließen zwei Gladbecker Kleinkriminelle, die Filiale der Deutschen Bank zu überfallen. Doch der Plan geht schon nach Minuten schief. Und mündet in ein 54-stündiges Desaster für die Polizei und die Medien

Über den Hof vor Block 3 schlurft ein kleiner, alter Mann. Er hält den Rücken gebeugt und den Kopf gesenkt, als suche er nach etwas, das er dort verloren hat. Aber er hat nichts verloren - außer seiner Freiheit, vor einem Vierteljahrhundert. Dieter Degowski, so heißt der alte Mann, hält den Blick gesenkt, weil er von niemandem angesprochen werden will, weder von den anderen Häftlingen noch vom Personal der Justizvollzugsanstalt Werl.

Alle vier, fünf Schritte hebt er ruckartig den Kopf und schaut sich kurz und scheu um. Wie ein ängstlicher Vogel beim Picken nach Würmern im Gras. Vor 25 Jahren hat die italienische Mafia ein Kopfgeld von einer Million Mark auf ihn ausgesetzt, weil er einem italienischen Jungen, der seine kleine Schwester beschützen wollte, aus nächster Nähe in den Kopf geschossen hat. Deshalb ist er hier. 14 Hektar, umgeben von einer sechs Meter hohen Betonmauer. Das ist seine Welt.

Häftling Degowski darf tagsüber aus seiner Zelle, um seinem Job als Hofreiniger im Hochsicherheitsgefängnis für Schwerstverbrecher am nordöstlichen Rand des Ruhrgebietes nachzukommen. Er kehrt, harkt Unkraut, leert Abfallbehälter. Selbst ein Knast bietet interessantere Jobs. Aber für mehr reicht es nicht, bei einem Intelligenzquotienten von nur 79. Zwei Drittel der Deutschen verfügen über einen IQ zwischen 85 und 115. Bei Werten unter 70 spricht man von geistiger Behinderung.

Die Geiselnahme von Gladbeck
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Die Justiz hat dem wegen Mordes an dem 15-jährigen Emanuele de Giorgi, wegen gemeinschaftlichen Menschenraubs und wegen Geiselnahme mit Todesfolge zu lebenslangem Freiheitsentzug verurteilten Degowski eine "besondere Schwere der Schuld" attestiert, die Psychiater zudem eine "dissoziale Persönlichkeitsstruktur".

Der Begriff bündelt eine ganze Palette von Verhaltensauffälligkeiten: erhebliche Störung der Impulskontrolle, Missachtung sozialer Normen, mangelnde Empathie. Auch wenn derzeit erstmals ein juristisches Prüfverfahren vor der Strafvollstreckungskammer läuft und sein 89-jähriger Anwalt Rolf Bossi nicht müde wird, die Landesregierung in Düsseldorf mit Gnadengesuchen zu bombardieren, sind sich alle in Werl einig: Dieter Degowski bleibt, wo er ist. Zumindest noch im medienträchtigen Jubiläumsjahr 2013.

In Werl gibt es viele alte Männer. Die durchschnittliche statistische Verweildauer eines Lebenslangen liegt hier bei 24 Jahren. Und Knast macht sehr schnell alt. Dieter Degowski ist zwar erst 57, aber äußerlich kaum wiederzuerkennen. Dabei kannte ihn vor 25 Jahren jeder, der einen Fernseher besaß oder Zeitung las: Zusammen mit Hans-Jürgen Rösner, seinem ein Jahr jüngeren Kumpel seit gemeinsamer Sonderschulzeit in Gladbeck, hielt Degowski im August 1988 drei Tage lang die Nation in Atem.

Die beiden Kumpels sind seit Kindesbeinen Gelegenheitskriminelle. Für Degowski ist Rösner das große Vorbild. Die Sonderschule liegt gleich neben Karstadt. Da geht man gleich nach der Schule zum Klauen vorbei.

Rösners Kindheit lässt sich in einem Satz zusammenfassen: Der Vater drischt im Keller mit dem Gummischlauch auf ihn ein und sagt Sätze wie: "Wärste mal besser verreckt bei der Geburt." Mit 14 kassiert Rösner die erste Jugendstrafe, danach sitzt er immer wieder, immer länger, bis er 1986 nicht aus dem Hafturlaub zurückkehrt, im Ruhrgebiet untertaucht, erst bei seiner Schwester Renate, dann bei Marion Löblich, der Ehefrau eines anderen Kumpels. Drei Kinder von drei Männern.

Als Rösner auftaucht, verlässt sie augenblicklich ihren dritten Ehemann. Der muskulöse Rösner ist am ganzen Körper tätowiert. Auch auf den vier Fingern seiner linken Hand. Das Wort "H-A-S-S" steht dort zu lesen.

16. August

Rösner und sein Kumpel Degowski beschließen, die Filiale der Deutschen Bank im Einkaufszentrum des Gladbecker Stadtteils Rentfort-Nord zu überfallen. Eine große Nummer für zwei Kleinkriminelle. Sie denken nicht lange über einen Plan nach. Der Plan ist: rein, raus, weg.

Am frühen Morgen des 16. August 1988 fahren sie also Richtung Bankfiliale an der Schwechater Straße, mit einem gestohlenen Motorrad. Sie haben nicht geschlafen in der Nacht zuvor, bei voller Fahrt stürzen sie mit der Honda CX 500 auf dem Weg zur Bank, weil Beifahrer Degowski so übermüdet ist und sich falsch in die Kurve legt. Um 7.55 Uhr gehen sie rein, aber noch bevor sie raus und weg sind, beobachtet ein Nachbar die Szenerie und alarmiert die Polizei. Im Nu ist die Bank umstellt.

Rösner und Degowski haben keinen Plan B. Aber sie haben großkalibrige Pistolen, sie haben 120.000 Mark aus dem Tresor, und sie haben zwei Geiseln. Am Abend stellt die Polizei das Fluchtauto und zudem das geforderte Paket mit weiteren 300.000 Mark.

Um 21.37 Uhr rasen die beiden Kleinkriminellen, die jetzt große Gangster sind, mit den beiden Bankangestellten Andrea Blecker (24) und Reinhold Alles (34) davon.

Aus der Sicht von Rainer Kesting, damals Chef der SEK Dortmund, ist dies der erste einer ganzen Kette verhängnisvoller polizeilicher und politischer Führungsfehler. Kesting sieht nämlich im Lauf dieses ersten Tages plötzlich die einmalig günstige Gelegenheit, die Bank zu stürmen und die beiden Geiselnehmer zu überwältigen. Die Gangster stehen nämlich eine ganze Weile weit abseits der Geiseln.

Aber bis die ferne Einsatzleitung in Recklinghausen mit ihrer Entscheidung endlich zu Potte kommen, ist die einmalige Chance schon wieder vertan. So wird das später noch mehrmals sein. Außerdem werden Kesting und seinen Männern per Funk vorsorglich und mehrfach disziplinarische Maßnahmen angedroht für den Fall, dass sie auf die Idee kommen sollten, eigenmächtig und spontan zu handeln. In Gladbeck wird ihnen stattdessen aufgetragen, den Autoverkehr rund um die Bank zu regeln.

Rösner und Degowski fahren mit den beiden Bankangestellten kreuz und quer durchs nächtliche Ruhrgebiet. Sie haben keinen Plan B, sie haben kein Versteck. Sie haben nur die beiden Geiseln, fast eine halbe Million Mark und ihre Knarren.

Sie stoppen an einer Tankstelle, an einem Kiosk, an einer Frittenbude, an einer Notdienst-Apotheke, um sich Vesparax-Tabletten als Aufputschmittel zu besorgen. Rösner marschiert überall mit gezogener Waffe rein und ruft: "Hier kommt der Nikolaus." So etwas imponiert Dieter Degowski mächtig.

Schließlich holen sie Rösners Geliebte Marion Löblich in deren Wohnung in Gladbeck ab. Und weil sie nicht wissen, wohin, und weil Marion Löblich aus Bremen stammt, fahren sie eben nach Bremen.

17. August

Rösner unternimmt zusammen mit seiner Geliebten einen Einkaufsbummel durch die Fußgängerzone, Degowski geht pinkeln und lässt die Geiseln alleine im Auto zurück, und die Polizei verpasst die nächste Zugriffsmöglichkeit. Erst am späten Nachmittag stellt Rösner überrascht und empört fest, dass sie von der Bremer Polizei observiert werden. Also kapern sie um 19.11 Uhr an einer Haltestelle der Linie 53 einen Bus mit 32 Fahrgästen.

Später lassen sie die beiden Gladbecker Bankangestellten und fünf Bremer Passagiere laufen. Rösner, bis dahin ein Niemand, eine gesellschaftliche Null, spielt die größte Rolle seines Lebens, gibt der Medienmeute Interviews, schiebt sich vor laufenden Kameras und 13 Millionen Zuschauern den Lauf seiner Knarre in den Mund, zieht die neunjährige Tatiana de Giorgi an den Haaren hinter sich her und drückt ihr den Lauf der Pistole gegen die Schläfe.

Live und in Farbe, Verbrechen hautnah. Und alle spielen bereitwillig mit, bei der aufregenden Jagd nach Auflage und Quote, nicht nur das Privatfernsehen im vierten Jahr seines Bestehens.

Plötzlich prescht der Bus los und biegt auf die Autobahn. Bei der Verfolgung kommt ein Polizeibeamter ums Leben, als sein Wagen mit einem Lastwagen kollidiert. Der erste von drei Toten des Dramas. Auf der Raststätte Grundbergsee östlich von Bremen stoppt der Tross.

Marion Löblich muss mal zur Toilette. Dort wird sie von Bremer Polizisten überwältigt. Eine irrsinnige Idee. Denn Rösner und Degowski haben im Bus 27 Geiseln in ihrer Gewalt. Die Entführer stellen der Polizei ein Ultimatum und drohen damit, Geiseln zu erschießen.

Beim Versuch, Marion Löblich die Handschellen wieder abzunehmen, bricht der Schlüssel ab. Als die Komplizin um 23.07 Uhr nicht zurück am Bus ist, dreht Degowski durch und schießt dem 15-jährigen Emanuele de Giorgi aus nächster Nähe in den Kopf. Der Junge ist ihm sowieso auf die Nerven gegangen, weil der ständig seine kleine Schwester in den Arm nahm und beschützend an sich drückte. Der 15-Jährige wird aus dem Bus gezerrt und verblutet auf dem Asphalt, weil die Bremer Einsatzleitung vergessen hat, Notarzt und Rettungswagen in Bereitschaft zu halten. Mit Marion Löblich an Bord fährt der Bus weiter, zunächst nach Süden, dann nach Westen.

18. August

Um 2.28 Uhr passiert der Bus bei Bad Bentheim die niederländische Grenze. In Oldenzaal fordern die Gangster einen schnellen Pkw als Fluchtfahrzeug. Doch die niederländische Polizei weigert sich, solange noch Minderjährige unter den Busfahrgästen sind. Um 5.15 Uhr werden drei Kinder (unter ihnen die neunjährige Tatiana) und zwei Mütter freigelassen. Aus Rösners Pistole löst sich ein Schuss und verletzt Marion Löblich am Bein.

Die niederländische Polizei stellt einen BMW 735i mit niederländischem Kennzeichen zur Verfügung. Was die Gangster nicht wissen: Der Wagen ist mit Peilsender und Mikrofonen ausgestattet und so präpariert, dass der Motor mittels Fernbedienung ausgeschaltet werden kann. Die Gangster wählen zwei Geiseln unter den Busfahrgästen aus, die sie mitnehmen werden: die 18-jährige Silke Bischoff und deren gleichaltrige Freundin Ines Voitle.

Degowski, der in seinem Leben noch nie eine feste Freundin hatte, sucht sich die hübsche, schlanke, blonde Silke Bischoff aus. Er lässt sie fortan nicht mehr aus den Augen, rückt ihr ständig auf die Pelle. Um 6.32 startet der BMW mit den fünf Personen. Nach Osten, zurück nach Deutschland. In Wuppertal steuern die Gangster um 9.04 Uhr eine Apotheke an, um Löblichs Schusswunde zu versorgen. Sie fahren weiter nach Köln, weil Rösner noch nie den Dom gesehen hat, und stoppen um 10.53 Uhr mitten in der Fußgängerzone.

Breite Straße. Sofort ist der Wagen von Passanten, aber vor allem von Journalisten umringt. Mikrofone und Kameraobjekte werden durch die geöffneten Seitenscheiben in die Gesichter der beiden Geiseln gestoßen: "Wie fühlen Sie sich?" Wieder alles live und in Farbe, Verbrechen hautnah, Köln wird zum medialen Alptraum, zum Schandmal eines ganzen Berufsstandes. Reporter betätigen sich als Tippgeber und Kaffeeholer, um sich bei den Gangstern einzuschmeicheln.

Auch Frank Plasberg ("Hart aber fair"), damals junger Radioreporter des Südwestfunks, steht in der ersten Reihe und interviewt die Gangster. Später weigert sich sein Redakteur in Baden-Baden, das Material zu senden. Express-Reporter Udo Röbel macht sich zum Komplizen, indem er in den BMW steigt und die Gangster aus der City lotst. Seiner Karriere soll das nicht schaden: Röbel wird später Chefredakteur der Bild-Zeitung.

In den Tagen danach wird man der Polizei vorwerfen, sie sei in Köln nirgends zu sehen gewesen. "Wir waren mitten im Pulk, natürlich in Zivil", versichert Dortmunds SEK-Chef Rainer Kesting Jahre später dem Nachrichtenmagazin Focus, nachdem er frustriert den Polizeidienst quittiert hat. "Wir hatten uns bis an die Wagenfenster vorgearbeitet. Wir waren Nahkampf-Spezialisten. Die Sache hätte binnen Sekunden erledigt sein können. Und wieder erhielten wir von der Einsatzleitung per Funk die Order, nicht einzugreifen."

Der BMW verlässt Köln über die A3 in Richtung Süden. Tank- und Pinkelpause an der Raststätte Siegburg-West. Rösner und Degowski haben seit mehr als 54 Stunden nicht mehr geschlafen. Weiter geht's. Richtung Rheinland-Pfalz.

Die Mainzer Landesregierung hat schon die in Hangelar stationierte Antiterror-Einheit GSG9 des Bundesgrenzschutzes angefordert, die Hubschrauber sind schon gestartet, zwei Kommandos der Helden von Mogadischu sind in der Luft. Doch die Düsseldorfer Landesregierung ist plötzlich wild entschlossen, das Drama selbst zu beenden, mit eigenen Kräften, auf eigenem Territorium, noch vor der Landesgrenze, unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Zugriff um 13.40 Uhr.

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