Zur Stippvisite in die Hölle Auf dem Ming-Berg in China blüht der Volksglaube

Fengdu · Fengdu ist der einzige Platz in China, an dem Lebende einen Blick in den Hades wagen können. Zwar ist die Stadt selbst in den Fluten des Jangtsekiang versunken. Doch oben auf dem Ming-Berg versucht mancher, auf nur einem Bein balancierend Böses zu verbergen.

 Rote Lampions weisen den Weg in Fengdu.

Rote Lampions weisen den Weg in Fengdu.

Foto: Martin Wein

Für einen engagierten Touristenführer ist das ein eher ungewöhnlicher Gefühlsausbruch: „Fahren Sie doch zur Hölle.“ Aber Herr Li meint das durchaus aufmunternd. Er deutet auf das kleine Elektrobähnchen, das fußmüde Reisende vom Schiffsanleger geräuschlos bis vor das mächtige Tor des Ming-Berges kutschiert. Ein kleiner Scherz müsse doch erlaubt sein, meint Herr Li, der Mann mit den dicken Brillengläsern, der sich gerne als „Pantoffelheld“ vorstellt, und grinst. Aber das mit der Hölle – das sei doch sein voller Ernst.

Li Zhi Kui hat im Leben nicht immer Glück gehabt. Sein Sohn stürzte mit dem Motorrad. Der andere Fahrer war unversichert. Herr Li brauchte sein ganzes Vermögen, damit der Sohn wieder laufen lernte. Dann verlor er seine Stelle, als sein Chef „oben“ in Ungnade fiel. Seither ist Herr Li ständig mit Touristen auf dem Fluss unterwegs, auch wenn er längst im Rentenalter ist. „In Fengdu sehe ich jede Woche Himmel und Hölle“, sagt er. Und im Vergleich gehe es ihm wirklich gut, findet er, zumal er, der Pantoffelheld, auf dem Schiff nicht wie zu Hause das Geschirr abtrocknen müsse.

Vier Prüfungen muss bestehen, wer in Fengdu einen Blick in den Himmel und in die Hölle werfen möchte, ohne dort für ewig zu bleiben. Dafür bietet die Sammlung von 27 Tempeln und Schreinen im laizistischen China die einmalige Gelegenheit zum Eintauchen in den immer noch verbreiteten Volksglauben. Vorstellungen des Daoismus, des Konfuzianismus und des Buddhismus haben sich hier, am Mittellauf des Jangtsekiang, eine Tagesreise östlich der Mega-Stadt Chongqing, in mehr als tausend Jahren zu einer wilden Vorstellungswelt verwoben, die noch heute keineswegs nur belustigt zur Kenntnis genommen wird.

Die Stätte umgibt wieder eine seltsame Aura

„Natürlich war den Rotgardisten während Maos Kulturrevolution das Treiben hier oben ein Dorn im Auge“, sagt Herr Li. Vieles sei damals zerstört worden. Aber als die Rotgardisten sich den Tempeln genähert hätten, sei ein furchtbares Gewitter losgebrochen und habe sie vom Berg verjagt.

Heute umgibt die Stätte, die zunehmend von Flusskreuzfahrern angefahren wird, wieder eine seltsame Aura. Kaum hat man das Tor mit den beiden schaurig grimassierenden Tempelwächtern Hing und Ha passiert und ist auf einem Treppenweg durch dichten Laubwald mit Hunderten roten Lampions und vorbedruckten Wunschbändern in den Zweigen der Alltagswelt entkommen, gilt es, die erste Entscheidung zu treffen. Die Brücke der Hilflosigkeit (Naihe Qiao) führt über den Blutfluss in die Anderswelt. Im Blutfluss darunter warten dem Vernehmen nach die ersten Höllengeister auf Bösewichte und ungeschickte Opfer.

Denn nur drei große Schritte bleiben, um die Brücke sicher zu passieren. Davor scheiden sich die Geister. Die Europäer, vor allem die älteren Kreuzfahrttouristen, drängeln sich links, Chinesen streben nach rechts. Wer die Prüfung besteht, der kann links mit Gesundheit rechnen. Die rechte Seite verspricht hingegen Geld und Reichtum. Und: Ehepaare müssen sich einigen. Nur wer Hand in Hand über die Brücke der Hilflosigkeit geht, der wird auch im nächsten Leben noch zusammen sein.

33 Stufen führen hinauf in den Himmel

An einem Bergsporn rechts steht wenige Schritte weiter die Pagode des letzten Geleits. Hierhin kommen der Legende nach alle Toten am siebten Tag nach ihrem Ableben. Noch einmal dürfen sie sich umdrehen und einen Blick auf die Welt werfen. Dass der Pavillon erst 1985 erbaut wurde, stört dabei niemanden. Die Traditionen am Ming-Berg sind schließlich viel älter. Der Überlieferung zufolge sollen die Höflinge Yin Chang-sheng und Wang Fangping in der Han-Dynastie vor rund 2000 Jahren am Berg meditiert haben, bis sie unsterblich wurden. Beider Namen zusammen heißen „Kaiser der Hölle“ – und damit war der Ursprung für die besondere Pilgerstätte gelegt. Nirgends sonst in China wähnt man sich dem Jenseits näher. Die ältesten Gebäude stammen heute aus der späten Ming-Dynastie (1368-1644).

Die erste Etappe endet im Himmel, denn das Paradies sollte nach chinesischer Vorstellung möglichst leicht zu erreichen sein. 33 Stufen führen hinauf – man sollte sie in einem Atemzug nehmen. Herr Li, obgleich deutlich über 60, legt einen beachtlichen Spurt hin. Das erfordert einige Kondition und ist deshalb nur ein Zusatztest. Oben wartet bestens gelaunt der Jadebuddha – vergoldet und mit einem kolossalen Bauch ausgestattet, der alles aufnehmen kann, was nicht zu ändern ist. Ein gemüt-licher Typ zum Gernhaben.

Früher war das Heiligtum von Fengdu nur der Gipfel einer Stadt mit 50.000 Einwohnern. Die wurde 2009 unter den Fluten des Drei-Schluchten-Stausees begraben. Als ein findiger Investor den Tempelkomplex in ein lukratives Resort verwandeln wollte, war Schluss mit lustig. Den gelben Betonklotz schmückt heute noch das Gesicht des Jadebuddhas. Doch die Fenster des dort geplanten Hotels sind vermauert. Die Stätte liegt im Dornröschenschlaf. Zwei Arbeiter seien bei den Bauarbeiten abgestürzt, erzählt Herr Li, der Investor selbst wenig später tragisch gestorben. Seither ist man vorsichtig geworden in Fengdu.

Alles Taktieren hat keinen Zweck mehr

„Überlegen Sie genau, was Sie tun“, warnt Herr Li deshalb auch vor dem Höllentor. Hier werde es brenzlig. Wenn eine Frau mit dem linken Fuß über die Schwelle steige, werde sie im nächsten Leben als Mann geboren. Für Männer gelte das Gegenteil. Und wer mit beiden Beinen springt, endet als Zwitter.

Spätestens im Angesicht des Höllenkaisers hat alles Taktieren ohnehin keinen Zweck mehr. In Nebenräumen seiner Residenz ist in bunten Dioramen detailreich dargestellt, wie Sünder zwischen zwei Leben abgestraft werden. Da werden Leiber gesägt und gevierteilt, in heißes Öl getunkt und an einen Pfahl gebunden. Ein Hund probiert von den Überresten eines durch die Wurstpresse gedrehten Frevlers. Im christlichen Mittelalter ging es kaum einfallsreicher zu.

So vorgewarnt tritt der Reisende vor die Augen des Höllenkaisers. Nur wer mutig genug ist, stellt sich der letzten Prüfung. Mindestens drei Sekunden – wegen des Andrangs wurde die Frist von Minuten auf Sekunden verkürzt – muss auf einem Bein ausharren, wer die Reinheit seiner Seele beweisen will. Eine knifflige Sache. Der Höllenkaiser hat dazu einen kugelförmigen Stein aufstellen lassen, auf dem nur federleichte Existenzen sicher balancieren. Und das Schlimmste an der Sache: Der Höllenkaiser wirkt zwar gebieterisch. Aber wer bei der Probe versagt, der muss bei seiner strengen kleinen Frau im dunklen Hinterzimmer um Gnade flehen.

In Wahrheit aber, glaubt Herr Li einigermaßen beruhigt, sei der Höllenkaiser eben auch nur ein Pantoffelheld.

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