Vater und Tochter reisen nach Glasgow Mackintosh und Marshmallows

GLASGOW · 2012 haben wir einen Pakt geschlossen, nicht für die Ewigkeit, aber immerhin für ein paar Jahre. Einmal im Jahr wollten wir, Vater und Tochter, Großbritannien besuchen und Erfahrungen sammeln, die beiden Generationen etwas bringen.

 Immer wieder wunderbar: Kelvingrove Art Gallery and Museum

Immer wieder wunderbar: Kelvingrove Art Gallery and Museum

Foto: Dietmar Kanthak

2012 haben wir mit der Metropole London begonnen. 2013 waren wir auf den Spuren von Shakespeare in Stratford-upon-Avon, 2014 auf den Spuren von Geschichte, Geistern und Hogwarts in Bonns Partnerstadt Oxford. 2015 fiel Great Britain aus, da stand New York auf dem Familienreiseplan.

Und jetzt also Schottland, Glasgow, um genau zu sein. Hier liegt die Anziehungskraft für junge Menschen auf der Hand. Von den 600 000 Einwohnern verteilt sich ein Viertel – das sind 150 000 – auf die drei Universitäten der Stadt. Glasgow besitzt eine lebendige Kunst- und Kulturszene, eine weltberühmte Kunsthochschule, viel Grün (daher kommt der Name) und hervorragende Shoppingangebote. Wir haben auch kulinarisch viel ausprobiert und waren immer begeistert.

Beim Abendessen im Ubiquitous Chip im leicht mit der U-Bahn erreichbaren West End von Glasgow wurde die Geduld der mitreisenden Vegetarierin auf eine harte Probe gestellt. Aber ich konnte bei „The Chip's own haggis, neeps 'n' tatties“ einfach nicht Nein sagen. Haggis besteht gewöhnlich vor allem aus Schafsinnereien. In der Kultkneipe/Restaurant The Ubiquitous Chip verarbeiten sie seit 1971 Wild.

Ein Schwerpunkt unserer vier Tage in Glasgow war die Kunst, und zwar in verschiedenen Facetten. Zum einen wollten wir Spuren verfolgen, die der große Architekt und Designer Charles Rennie Mackintosh (1868-1928) in seiner Geburtsstadt hinterlassen hat. Zum anderen planten wir, die von Mackintosh entworfene Glasgow School of Art zu besichtigen, darüber hinaus Zaha Hadids spektakuläres Riverside Museum und natürlich – immer wieder wunderbar – Kelvingrove Art Gallery and Museum.

Kunst, Musik im Besonderen, ist allgegenwärtig in der Stadt. Straßenmusiker sind Legion, und auch in Clubs und Pubs geht es zur Sache. Das darf man wörtlich verstehen. Eines Abends kamen wir voll der guten Pasta aus dem Lokal der Fratelli Sarti in der Bath Street, als aus den geöffneten Fenstern des Bloc+ in der Nähe ein, zurückhaltend formuliert, infernalischer Lärm den Weg nach draußen fand. Drei Bands standen an diesem Abend auf dem Spielplan: Rash Decision, RID und Boycott The Baptist. Die gaben Gas. Im Bloc+ kann man auch essen. Am „Bloc+ Dog Friday“ serviert das Haus „A 9-inch German Bockwurstsausage“. Da fühlt man sich doch gleich wie zu Hause.

Zurück zur Kunst und zur 1909 eröffneten Glasgow School of Art (GSA) in der Renfrew Street. Wir hatten uns für eine Führung, die „Mackintosh at the GSA tour“, angemeldet. Bevor es losging, konnten wir im Foyer in Erfahrung bringen, was der Architekturhistoriker Sir Nikolaus Pevsner Mackintosh nachgerühmt hatte: Er habe in seiner Arbeit Mathematik und Musik vereint. Charles Rennie Mackintosh war auch ein Mann des Wortes. Er betrachtete die Kunst als Blume und das Leben als grünes Blatt. Jedem Künstler solle daran gelegen sein, aus der Blume einen schönen lebenden Organismus zu machen. „Art is the flower, life is the green leaf“, schrieb er 1902. „Let every artist strive to make his flower a beautiful living thing.“

Unsere Führerin hieß Alex, sie stammte aus Florida. Mackintosh wuchs in einer Familie mit elf Kindern auf. Er musste sich seine Position in der Welt der Architekten und Designer erarbeiten, wenn nicht erkämpfen. Sein erstes Meisterstück war die Glasgow School of Art, die in zwei Phasen, von 1897 bis 1899 und 1907 bis 1909, entstand. Mackintosh hätte auch den Berliner Flughafen bauen können, das angepeilte Budget von 14 000 Pfund für den Bau der Kunstschule steigerte er souverän auf 42 000 Pfund. „He was very unrealistic with budgets“, stellte Alex trocken fest.

Mackintosh hat zeitlebens viele Einflüsse aufgenommen: Art nouveau, Art déco, japanische Ästhetik. Dank seiner visionären Kraft gilt er als Vertreter des Modernismus. Er war seiner Zeit voraus, wie er auch jeder Budgetgrenze stets enteilte. Die Bibliothek der GSA ist auch sein Werk. Besser: war sein Werk. Sie ging 2014 in Flammen auf. Eine Katastrophe, die aus dem fatalen Zusammenspiel eines Projekts mit zeitgenössischer Kunst, eines heißgelaufenen Projektors, Schaum, Pech und Pannen entstand. Seither ist das GSA-Gebäude eine eingerüstete Baustelle.

Die Bibliothek wird im Geiste Mackintoshs rekonstruiert. Die Kosten für die Sanierung belaufen sich auf geschätzt 35 Millionen Pfund, 2019 soll alles in neuem Glanz erstrahlen. Man kann sich auf strenge Brandschutzregeln einstellen. Alex: „No smoking for a mile around.“

In der GSA sind auch Möbelstücke von Mackintosh ausgestellt. Er ist unter anderem für seine Stühle mit den unproportional hohen Lehnen berühmt. Auch Arbeiten seiner Frau, der Künstlerin Margaret MacDonald, sind zu sehen. Die Nähe zu Gustav Klimt ist evident. Führerin Alex hält große Stücke auf Mackintoshs Frau und Kollaborateurin: „Er hatte Talent. Sie hatte Genie.“

Bequem ist nicht das Wort, dass man automatisch mit Mackintoshs Sitzgelegenheiten verbinden würde. Also sind wir in die Willow Tea Rooms in der Buchanan Street gepilgert, um a) einen Willow Green Tea respektive eine heiße Schokolade mit Marshmallows zu trinken und b) den Mackintosh-Sitztest zu machen. Und siehe da, es saß sich gut auf den Stühlen mit den hoch aufragenden Lehnen.

Am nächsten Tag sind wir Bus gefahren. 21 Stationen bietet das Stadtrundfahrtprogramm „Hop on – Hop off“ an. Das heißt, wer Lust hat, die Kathedrale (unbedingt!) oder die Universität (ein Muss!) zu besichtigen, steigt aus und steigt später wieder ein.

Der Bus, mit dem wir zum Riverside Museum of Transport fuhren, hatte eine temperamentvolle Stadtführerin an Bord: Jackie. Sie wies auf den Ort hin, wo früher öffentliche Enthauptungen an der Tagesordnung waren, zeigte auf den ältesten Pub der Stadt, The Scotia Bar, und würdigte Kunst im öffentlichen Raum, namentlich Wandmalereien: „absolute crackers“.

Die Geschichte der Polizei der Stadt kannte sie auch in- und auswendig. Jackie, stellte sich heraus, ist mit einem Polizeibeamten verheiratet. Im Riverside Museum of Transport am Fluss Clyde ist alles versammelt, was mit Verkehr und Verkehrsmitteln zu tun hat: Schiffe, Polizeiautos, Loks, das älteste Fahrrad der Welt. Junge Menschen lieben und bevölkern das Riverside Museum, das 2013 Museumseuropameister wurde. Eltern können sich dort entspannen, der Nachwuchs verfällt derweil der Magie der Exponate. Kein Wunder, dass Jackie sagte: „This is where we bring our children.“

Wir waren auch im Lighthouse, um an der Lighthouse Building Tour teilzunehmen. Wie uns Jennifer Houghton erzählte, residierten in dem Haus früher einmal die Journalisten des Glasgow Herald; sie sitzen und arbeiten mittlerweile in einem modernen Bau. Der Turm des alten Zeitungsgebäudes wurde 1893 von John Kepple und Charles Rennie Mackintosh entworfen. Man entdeckt Art-nouveau-Elemente und japanische Einflüsse an der Fassade. Der Turm dient zusammen mit einem Anbau dem Zentrum für Architektur und Design. Ganz oben kann man einen exklusiven Blick über die Stadt genießen. Das tun viele Menschen. Der Name Mackintosh funktioniert wie ein Magnet. „Er ist so etwas wie der Antoni Gaudí Schottlands“, bemerkte Jennifer Houghton.

Der Mackintosh-Pilgerpfad hält weitere unverzichtbare Begegnungen bereit: The Daily Record Printing Works, Scotland Street School, The Mackintosh Church, Martyr's School, Queen Margaret College, The House for an Art Lover und natürlich The Mackintosh House.

So wenig Zeit, so viele Attraktionen. Und dabei habe ich noch gar nicht von den ehrgeizigen neuen architektonischen Attraktionen gesprochen: dem Science Centre und den Konzert- und Konferenzhallen The Armadillo und The Hydro. Überall in der Stadt begegnet man dem sympathischen Slogan: „People make Glasgow“. Die Menschen machen Glasgow. Aber auch die Architektur, die wunderschöne alte und die kühne neue, trägt dazu bei. Unser Fazit nach vier tollen Tagen: Wir haben viel gesehen und erlebt, aber längst nicht genug. Es hilft nichts: Wir müssen wiederkommen.

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