GA-Serie "Rheinland für Entdecker" Krefeld ist als Architekturstadt eine unterschätzte Schönheit

KREFELD · Krefeld versammelt epochale Einzelbauten wie den neogotischen Kirchbau Sankt Cyriakus und gipfelt in der modernen Klarheit eines Ludwig Mies van der Rohe.

 . Die Villa Lange ist heute ein Museum.

. Die Villa Lange ist heute ein Museum.

Foto: Jana Bauch

Wie schön wäre es, wenn man mit Riesenhänden die interessantesten Gebäude einer Stadt nebeneinanderstellen könnte. Wie würden einem die Augen übergehen, wie würde sich Geschichte erschließen, wie würde man auf einen Blick verstehen.

Krefeld ist als Architekturstadt eine unterschätzte Schöne. Sie versammelt Geschichte in epochalen Einzelbauten ebenso wie in Seitenwegen. Wer wissen will, warum der Brutalismus als museales Projekt interessant, aber lebenspraktisch gescheitert ist, kann sich das "Seidenweberhaus" anschauen, Krefelds zentrale Veranstaltungshalle. Wir raten ab. Krefelds große Architekturereignisse siedeln in den 20er und 50er Jahren, sieht man von zauberhaften, großartigen, neogotischen Kirchbauten des 19. Jahrhunderts ab, für die stellvertretend St. Cyriakus in Krefeld-Hüls genannt sei. Ein Juwel.

Wirklich epochal ist Krefeld dort, wo der Sprung in die Moderne sichtbar wird - wobei beide Satzelemente wichtig sind: "Sprung in die Moderne" und "sichtbar werden". Wie Geschichte funktioniert, kann man in Krefeld wunderbar studieren.

Der Sprung in die Moderne: Der Architekt Ludwig Mies van der Rohe (1886 - 1969) hat seinen Durchbruch in eine neue Formenwelt Anfang der 20er Jahre gewagt, genauer gesagt 1921 mit dem Wettbewerbsentwurf eines Hochhauses. Glasflächen prägten einen Baukörper von nie gekannter puristischer Klarheit. Mies van der Rohe galt danach als Avantgarde-Architekt. In Krefeld bekam er von den beiden Krefelder Textil-Unternehmern Hermann Lange und Josef Esters eine große Chance. Die beiden Freunde waren architekturbegeistert und reich genug, um entspannt bauen zu können. Vor allem waren sie verrückt genug, Mies van der Rohe für den Bau einer Doppel-Villa freie Hand zu lassen. Zwei auf einen Streich! Ein Freundschaftsprojekt. Ein Architekturgeschichtsprojekt. Ein Glücksfall. Daraus wurden Haus Lange und Haus Esters, 1930 fertiggestellt, heute als Museen der Stadt Krefeld bekannt.

Mies hat noch mehr Spuren in Krefeld hinterlassen, darunter sein weltweit einzig verwirklichtes Stück Industriearchitektur im heute sogenannten "Mies van der Rohe Businesspark" an der Girmesgath. Gemeint ist das sogenannte HE-Gebäude der früheren Verseidag (Vereinigte Seidenwebereien AG) - wobei HE für Herrenfutterstoffe steht; dort waren Lager, Warendurchsicht und Verkauf der Stoffe untergebracht. Angegliedert sind Sheddachhallen, in denen früher eine Färberei untergebracht war. Neun der 13 Hallen stammen von Mies; er hat sie seit Anfang der 30er Jahre errichtet. Heute sind sie für moderne Büroräume bestimmt - sie gehören sicher zu den schönsten Arbeitsplätzen Krefelds.

All das gilt in der Fachwelt als so bedeutend, dass Krefeld im Gedenkjahr der Bauhausgründung 2019 Bauhausstadt wird. Walter Gropius hatte die legendäre Kunstschule 1919 in Weimar gegründet, dritter Direktor wurde Ludwig Mies van der Rohe. Auch seine Krefelder Villen empfahlen ihn für diesen Posten.

Parallel zu Mies entfaltete sich in Krefeld das, was man heute als Backstein-Expressionismus bezeichnet. Der Architekt Hans Poelzig (1869 - 1936) baute 1929 bis '31 an der Kliedbruchstraße 67 ein Paradebeispiel für diesen Stil. Die Backsteinfassade wird bestimmt von weichen, fließenden Linien, die an organische Formen erinnern. Eine andere Variante pflegte Arnold Esch (1885 - 1935): Er verband klare Geometrie mit verspieltem Fassadenschmuck. Eines der schönsten Beispiele: Anfang der 30er Jahre errichtete er an der Paul-Schütz-Straße eine symmetrisch aufgebaute Wohnanlage. Es ist ein Straßenzug aus einem Guss, mit Hochbeetanlage als Vorgartenersatz und auflockernder Fassadenornamentik. Ein wunderbar behagliches Wohnquartier.

Vergleicht man die Formenwelten, fällt das unerhört Neue bei Mies van der Rohe sofort in den Blick. Wo er auf nie gekannte kubische Kargheit setzte, bewahrte sich der Backsteinexpressionismus den Hang zum Zierrat und zum Zitat. Modern war er darin auch - wer stilbewusst zitiert, blickt auf Vergangenes und eignet es sich doch neu an. Dennoch: Im Zitat steckt immer auch Rückwärtsgewandtes. So stehen radikale und abgemilderte Moderne nebeneinander. "Ich glaube, dass es neben der Avantgarde immer auch populäre Strömungen gibt, die Avantgarde-Elemente aufgreifen und abschwächen", sagt dazu Christiane Lange, Kunsthistorikerin, Bauhaus-Kennerin und Nachfahrin von jenem Hermann Lange, der wahnsinnig genug war, Mies freie Hand zu lassen.

Sanierung soll mehr als 80 Millionen Euro kosten

Die Verseidag blieb architektonisch Innovationstreiber in Krefeld. In den 50er Jahren engagierte der Textilkonzern den berühmten Architekten Egon Eiermann zum Bau einer neuen Zentrale. Eiermann galt wie Mies als Klassiker der Moderne. Das Gebäude dient heute als "Stadthaus", als technisches Rathaus, und beschert den Krefelder Kommunalpolitikern graue Haare; die Sanierung soll mehr als 80 Millionen Euro kosten. Wünschenswert wäre es: Der Komplex wirkt heute noch frisch und modern. Vor allem im Innern entfaltet er eine berückende Dramaturgie aus Licht und Transparenz; die Blicke im Innern werden gelenkt durch ein fein gearbeitetes Geländersystem mit roten Punkt-Elementen, das dem Ganzen eine hinreißend zarte grafische Struktur einstiftet. Selten entfaltet ein schnödes Alltagsding so viel Präsenz und Leichtigkeit.

In die gleiche Zeit fällt die Textilingenieurschule des Düsseldorfer Architekten Bernhard Pfau am Frankenring 20, gebaut von 1951 bis 1958. Markant ist der an der Stirn leicht gewölbte Bau auf Stelzen. Pfau spielte gern mit organischen Linien, wie sie Poelzig zu eigen waren - gut sichtbar etwa am von Pfau entworfenen Düsseldorfer Schauspielhaus. Linien, die sich ja bis zu den Düsseldorfer Gehry-Bauten erhalten haben. Frank Owen Gehry hat Poelzigs Organik und Mies van der Rohes Abstraktion ganz neu miteinander verbunden.

All die Leichtigkeit, all die Eleganz und Transparenz gehen im Brutalismus der 70er Jahre unter. Das Krefelder Seidenweberhaus hat darin heuristische Kraft. Der Bau strahlt spielerische Lust tatsächlich nur in Luftaufnahmen aus; steht man unten vor dem Gebäude, egal auf welcher Seite, steigt vor einem ein unwirtlicher Felsen auf, der zerklüftet ist von funktionslosen Vorsprüngen und Durchgängen. Im Frankfurter Architekturmuseum gab es unlängst eine Ausstellung mit dem Titel: "SOS Brutalismus. Rettet die Betonmonster." Beim Seidenweberhaus kann man das Monströse der Betonmonster sehen und lernen, warum sie es nicht wert sind, gerettet zu werden. Man muss nicht jeden epochalen Irrweg für die Ewigkeit konservieren. Nahe bei uns und immer noch zukunftsrelevant sind Eiermann und Mies.

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