Crystal Meth und die Folgen Das erwartet die Kinobesucher bei "Beautiful Boy"

BONN · Timothée Chalamet und Steve Carell brillieren in Felix van Groeningens „Beautiful Boy“. Der Film behandelt bewegend das Thema Drogensucht.

 Vater und Sohn, im Unglück vereint: Steve Carell (rechts) und Timothée Chalamet.

Vater und Sohn, im Unglück vereint: Steve Carell (rechts) und Timothée Chalamet.

Foto: Francois Duhamel

Sie werden so schnell groß. Perry Como wusste 1968 ein Lied davon zu singen. „Is this the little girl I carried? / Is this the little boy at play? / I don't remember growing older, / When did they?“, heißt es in „Sunrise And Sunset“. In Felix van Groeningens Film „Beautiful Boy“ (ab Donnerstag im Kino) gehört Comos Song zu den 18 eindringlichen, die Handlung begleitenden Stücken. Sie spiegeln musikalisch Stationen im Leben der Titelfigur Nic Sheff: die Scheidung der Eltern, die Flüge von San Francisco zur Mutter in Los Angeles, das Familienleben mit Stiefmutter und neuen Geschwistern, die Musik- und Literaturerfahrungen. Schließlich: die Drogensucht, der gefährliche Flirt mit Crystal Meth.

Klingt nicht gerade einladend

Nic als 18-Jähriger wird von Timothée Chalamet verkörpert, der für seine Rolle in Luca Guadagninos „Call Me By Your Name“ (2017) für den Oscar nominiert wurde und nun im englischsprachigen Debüt des belgischen Filmemachers van Groeningen seine Klasse abermals unter Beweis stellt. Der Film eröffnet mit der schockierenden Erkenntnis des Vaters (Steve Carell), der eigene Sohn sei ihm fremd geworden: „Ich hab' keine Ahnung, wer er ist.“ David Sheff ist Journalist, er sammelt also Informationen zum Thema Crystal Meth. Er schont sich nicht, schreckt auch vor einem Selbstversuch nicht zurück, um zu erfahren, wie die Droge wirkt.

Klingt nicht gerade einladend. Zumal van Groeningens und Luke Davies' auf Büchern von David und Nic Sheff basierendes Drehbuch dem Zuschauer die niederschmetternde Dramaturgie klassischer Drogenfilme nicht erspart. Es ist der Kreislauf aus Selbstzerstörung, Selbsterkenntnis, Hoffnungsfunken („einmalige Sache“, „nie wieder“), halbherzigen Therapieversuchen, programmierten Abstürzen und erneuter Dunkelheit. Wie „Täglich grüßt das Murmeltier“ – nur ohne die witzigen Momente.

Was „Beautiful Boy“ zu einem Ereignis macht, ist das Zusammenspiel von Dialog, Musik, Regie und Schauspielkunst. Mit Gegenwartsaufnahmen und Rückblenden setzt van Groeningen ein Familienbild zusammen, das nur auf den ersten Blick vollkommen erscheint. Nic wächst in einer materiell sorgenlosen und kulturaffinen Umgebung auf. Er ist attraktiv, literarisch interessiert (Charles Bukowskis Gedicht „Let It Unfold You“ hat ihn maßgeblich beeinflusst) und zeichnerisch begabt. Musikgeschmack hat er auch.

Abends sang der Vater den jungen Nic mit John Lennons Lied „Beautiful Boy“ in den Schlaf. Am Flughafen verabschiedete er ihn mit der ernst gemeinten Versicherung, er liebe ihn mehr als „alles auf der Welt“. Das linderte die Traumata des Scheidungskindes allerdings nur minimal. Ein weiteres Problem kommt auch zur Sprache. Mag sein, dass der erfolgreiche, intellektuell brillante Vater den sensiblen Nic mit der Erwartung, er möge ihn mit seinen besonderen Anlagen noch übertreffen, unter Leistungsdruck setzt. Er sei sicher, seinen Vater permanent zu enttäuschen, bricht es in einer explosiven Szene aus Nic heraus. Ein anderes Mal schreit er (im Original): „You f***ing suffocate me.“ Auf Deutsch: Er fühlt sich von einem Kontrollfreak eingeengt.

Wie gesagt, auf den ersten Blick sieht eigentlich alles ganz perfekt aus. In einer von Nirvanas „Territorial Pissings“ unterlegten Rückblicksszene profiliert sich David als cooler Dad, als „best buddy“, der mit dem Sohn einen Joint raucht und mit vergangenen Drogenerfahrungen kokettiert. Der Nirvana-Song läuft auch in Davids Volvo, als er später im Regen seinen Sohn sucht und findet. Zu Kurt Cobains kreischendem Gesang übergibt er sich im Auto.

Nics Sucht wird nicht voyeuristisch ausgestellt oder gar überhöht. Chalamet drückt Himmel und Hölle von Crystal Meth in Körpersprache, Gesten und Blicken aus. Manchmal genügt der charakteristisch angespannte Kiefer, um den Konsumstatus seiner Figur anzudeuten. Er spielt einen Jungen, der zum Schauspielern verdammt ist. Nic führt ein Doppelleben. Meistens trägt er die Maske des charmanten 18-Jährigen Sohnes, Bruders und Boyfriends einer hübschen Kommilitonin. Dann wieder fährt er zu Hause beleidigend aus der Haut. Und er beschafft sich hinterhältig kalkulierend oder mitleiderregend greinend Geld für Drogen.

Die Macht der künstlichen Paradiese

Nics hoch entwickelte Intelligenz und die Einsicht ins eigene Tun kapitulieren immer wieder vor der Macht der künstlichen Paradiese. Der Weg ist für den Süchtigen dabei das Ziel, denn er weiß: „Es reicht niemals aus.“

Steve Carell durchlebt als Vater alle Stadien eines überforderten Mannes. Aggression, Verdrängung und Verunsicherung wechseln mit konstruktiver Recherche, Hilfsangeboten und verständnisvollen Gesprächen. Doch alles Wissen hilft nichts, und jeder Versuch, die Kontrolle über die Situation zu behalten, ist zum Scheitern verurteilt. Carells Augen und sein Mienenspiel erzählen von Davids schmerzhaftem Lernprozess, der ihn von der zweiten Frau (Maura Tierney) und den Kindern zu entfremden droht und neue Konflikte mit Nics Mutter (Amy Ryan) generiert. Am Ende kommt er zu einer Entscheidung, die große Risiken birgt und kein Happy End verspricht: der überzeugende Schlusspunkt eines wichtigen Films.

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