Die Entdeckung des Nichts Hamburgs Dialog im Dunkeln entführt in eine Welt jenseits des Lichts

Hamburg · Wie fühlt es sich an, wenn Blinde die Sehenden führen? GA-Volontärin Elena Sebening war vor Ort und berichtet von ihren einmaligen Erlebnissen und auch davon, warum die Dunkelheit Angst machen kann.

 Der Dialog im Dunkeln führt Sehende in die Welt der Blinden ein.

Der Dialog im Dunkeln führt Sehende in die Welt der Blinden ein.

Foto: Dialoghaus Hamburg/SJSK

Die wahre Dunkelheit fand ich bisher nicht einmal in der tiefsten Nacht. Egal wie spät es ist: In der Stadt scheint es unmöglich, das allumfassende Nichts wirklich zu begreifen. Und doch entdeckte ich es ausgerechnet in der Millionenmetropole Hamburg.

Mit schnellen Schritten ziehe ich los, das Handy für ein letztes Überprüfen der Adresse in der Hand und meine Lieblingsmusik in den Ohren. Olli Schulz singt wie immer vom Leben, von der Liebe und vom Scheitern. Aber heute ist nicht wie immer. Auf meinem Weg zum Dialoghaus überwiegt die Aufregung und die Angst vor der kompletten Dunkelheit.

Was muss es für ein Gefühl sein, zu erblinden? Was macht es mit einem Menschen, wenn er seinen restlichen Sinnen nahezu ausgeliefert ist? Fragen über Fragen schießen mir durch den Kopf. "Neue Welten für Ihre Sinne" heißt es auf dem Flyer. Beim "Dialog im Dunkeln" soll es viel zu entdecken geben - aber rein gar nichts zu sehen.

Eindrucksvolle Ablenkung

Im Warteraum des historischen Backsteinriesen am Alten Wandrahm in der Speicherstadt sitzt eine Gruppe von Kindern. Es scheint, als würden sogar die Zehnjährigen ins Nachdenken geraten. "Was mache ich, wenn ich meine Freunde darin verliere?", fragt das blonde Mädchen den Betreuer. Der hat beruhigende Worte parat: "Haltet euch gegenseitig fest, dann verliert ihr euch nicht".

Noch bevor er den Satz zu Ende sprechen kann, unterbricht ihn einer der Jungs: "Seht mal, ein Boot". Die Meute rennt zum Fenster, um ihre Aufmerksamkeit wieder anderen Dingen zu widmen. Ein Schiff auf der Elbe: Selten wirkte die Ablenkung durch Visuelles eindrucksvoller als in diesem Moment.

Dann geht es los: "Dialog im Dunkeln, 17.30 Uhr bitte" ertönt es mit tiefer Stimme. Ein Mann verteilt Blindenstöcke an die Besucher. In den nächsten 90 Minuten sind die Stöcke unser einziger Halt und abgesehen von unseren Erwartungen das Einzige, was wir mitnehmen dürfen. "Habt ihr alle einen?", fragt der Mann in die Runde. Einige nicken stumm, statt "Ja" zu sagen.

Die Welt der Blinden im Schnelldurchlauf

So selbstverständlich, wie die nonverbale Kommunikation mit Hilfe der Augen für die Besucher ist, führt er uns in die Welt der Blinden im Schnelldurchlauf ein. Und so wagen wir uns vor in die Dunkelheit, wo Jens schon auf uns wartet, mit all seinen Geschichten und Witzen.

Jens hat nur noch ein paar Prozent Sehfähigkeit. Seine Augen wurden immer schlechter; mittlerweile sieht er die Welt in "vielen hellen Pixeln" und gilt offiziell als blind - wie alle, die hier arbeiten. Ich frage mich, wie Jens wohl aussieht, wie alt er ist. Seine Stimme klingt jung, nett und aufgeweckt.

"Die Notknöpfe sind da, da und da, wenn etwas passieren sollte", sagt er. Doch es gibt niemanden, der sehen könnte, wohin er gerade zeigt. Je länger wir in diesem Vorraum stehen, desto mehr befürchte ich, dass die Dunkelheit mich verschlingt. Es ist, als hätte ich das Nichts entdeckt. Ein Nichts, in dem sich alles befindet und das dennoch unerreichbar für mich bleibt.

Jens reißt mich aus dem Gedankenstrom: "Gibt es jemanden mit weiteren Einschränkungen?". Ich gestehe ihm, nicht räumlich hören zu können, und er sagt: "Gut, Elena, auf dich passe ich besonders auf." Ich hoffe, dass er sein Versprechen hält, denn ich kann nicht ausmachen, aus welcher Richtung Geräusche kommen und mich deshalb nicht an den Stimmen orientieren und ihnen folgen.

Die Polonaise von Neu-Blinden

Alle anderen kennen sich untereinander - ich bin die einzige, die sich nur an sich selbst und ihren Stock klammern kann. Also darf ich vorangehen bei unserer Polonaise von Neu-Blinden. Links das Geländer und ein Plätschern von Wasser, rechts die sympathische Stimme von Jens. Plötzlich nimmt er meine Hand und hält sie ins Nasse.

Mir läuft ein Schauer den Rücken herab. Meinen stets stark präsenten Wunsch nach Kontrolle musste ich beim Ticketkauf abgeben. Ich bin der Hilfe von Jens und meiner Gruppe ausgeliefert und ironischerweise froh darüber, dass niemand meinen verzweifelten Gesichtsausdruck sehen kann.

Obwohl es beim "Dialog im Dunkeln" in 90 Minuten darum geht, Alltagssituationen zu meistern, wirkt es wie das Erkunden einer neuen Welt. Das Passieren einer Hängebrücke wird zur größten Herausforderung. Das Ein-Zimmer-Apartment, das es zu durchqueren gilt, gewinnt die Größe eines unerforschten Planeten.

Das insgesamt 500 Quadratmeter große Areal wurde eigens dafür erschaffen, sehenden Menschen das Blindsein näher zu bringen. Nach der inszenierten Hafenrundfahrt geht es in den Raum der Musik. Wir dürfen uns auf den Boden setzen, legen oder auf Bänken Platz nehmen. Aus Angst, komplett den Halt zu verlieren, wähle ich die Bank.

Hier werde ich von der Musik mehr mitgerissen als zuvor beim Besuch des Musicals "König der Löwen". Die ersten Töne erklingen - und Jens sagt: "Macht bitte die Augen zu. Das ist kein Scherz, ihr werdet euch einfach besser konzentrieren können". Im wahren Sinne des Wortes folge ich blind seiner Instruktion.

Das Erleben der Musik

Und dann kommt sie, die Musik mit all ihrer Intensität. Afrikanische Klänge erfüllen den Raum, lassen ihn wortwörtlich vibrieren. Ich umfasse den Blindenstock noch etwas fester, denn Gänsehaut nimmt jeden Zentimeter meines Körpers ein. So intensiv, dass mein Gesicht sich zu spannen beginnt, weil jede Faser von mir die Musik aufzunehmen scheint, sie spürt und sich völlig in ihr verliert.

Der Weg zurück in die Welt der Sehenden verläuft gemächlich. Selbst der kleinste Funke Licht schmerzt wie heiße, pulsierende Nadeln, die meine Netzhaut traktieren. Und dann - es kommt mir vor wie die Auflösung eines 90-minütigen Rätsels - bekommen wir Jens erstmalig zu Gesicht. Er ist 54 Jahre alt, relativ klein, sein schwarzes T-Shirt hat ein Loch unterm Arm. Seit 15 Jahren arbeitet er hier und unterhält die Besuchergruppen mit seinen Anekdoten.

Nun trennen sich unsere Wege. Die Intimität der Dunkelheit haben wir schlagartig verloren. Eingenommen von all den Emotionen und Erkenntnissen laufe ich nach Hause. Ich bin unbeschreiblich dankbar, diese Erfahrung gemacht zu haben. Ein bisschen fühlt es sich an, als hätte ich meine Augen überwunden und dabei Neues entdeckt.

Weitere Infos unter https://dialog-in-hamburg.de

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