Flüchtlingskinder in Bonn Deutschstunde im neuen Leben

BONN · Besuch in einer der 28 Bonner Vorbereitungsklassen. Die meisten Schüler haben funktionierende Familien, die ihnen Rückhalt geben. Religion ist kein Thema, über das man sich streitet.

 "Meine Schüler sollen sich selbst artikulieren und nicht nur auswendig lernen", meint Lehrerin Amelie Bek (links), die in einer der vier internationalen Klasen an der Johannes-Rau-Hauptschule in Bad Godesberg unterrichtet.

"Meine Schüler sollen sich selbst artikulieren und nicht nur auswendig lernen", meint Lehrerin Amelie Bek (links), die in einer der vier internationalen Klasen an der Johannes-Rau-Hauptschule in Bad Godesberg unterrichtet.

Foto: Axel Vogel

Ein Fest, bei dem bunte Eier verteilt werden wie auf dem Foto? "Das ist Ostern. Das feiern Christen", sagt Miriam (alle Schülernamen geändert) wie aus der Pistole geschossen. Das Flüchtlingsmädchen in einer der vier internationalen Klassen der Johannes-Rau-Hauptschule besitzt den Wissensstand einer 15-Jährigen - aber an ihren Deutschkenntnissen muss, ja will sie unbedingt noch arbeiten. Miriam hat Gewalt und Zerstörung erlebt. Ihr Elternhaus ging in Flammen auf. Ein Jahr hat das Mädchen keine Schule besuchen können. Dann schaffte es die Familie nach Deutschland. "Bonn ist so schön". Miriams Augen leuchten. Seit drei Wochen lernt sie in einer der 28 Bonner Vorbereitungsklassen für weiterführende Schulen. Nachmittags nutzt Miriam auch die Sprachförderung der Schule und der Arbeiterwohlfahrt. "Ich will ja mal ganz viel herausfinden", sagt sie. "Ich will in die Forschung", komplettiert Miriam auf Englisch.

"Da ist für alle in der Klasse Tempo gefragt"

Bis dahin wird das ehrgeizige Mädchen aus den Kriegsgebieten noch einige Hürden nehmen müssen. Sich gut verständigen können, sei das eine, meint Lehrerin Amelie Bek nach der Stunde, und sie lobt Jugendliche wie Miriam ausdrücklich. "Aber Deutsch lesen und schreiben und Texte analysieren, Aufgaben ausführen zu können, das ist das andere. Da ist für alle in der Klasse Tempo gefragt." Denn die Zwölf- bis 15-Jährigen seien nicht mehr so jung wie der Zehnjährige, den man kürzlich direkt aus der internationalen Klasse ins Gymnasium schicken konnte. "Die Schüler dieser Fortgeschrittenenklasse müssen bis zu zwei Jahre hart arbeiten, damit wir für sie Bildungsgänge finden und sie schließlich ans Ziel gelangen."

Zugereiste Kinder und Jugendliche, die Vorbereitungsklassen besuchten, würden mit zunehmender deutscher Sprachkompetenz möglichst schnell in ein bestehendes Regelklassensystem integriert, erläutert Dirk Schneemann für die Bezirksregierung das Ziel. Die beteiligten Bonner Schulen berichteten von einer lernfreudigen Schülerschaft und dass die schulische Integration durch intensive Sprachangebote grundlegend unterstützt werde. Daher sei die Dauer des Verbleibs in einer Vorbereitungsklasse individuell unterschiedlich, so Schneemann.

Die muntere Truppe um Miriam ist inzwischen bei anderen Festfotos angelangt. "Wenn ein Mann der Frau Blumen gibt, das ist Hochzeit, ja?", fragt Bassam, und er setzt konzentriert Wort für Wort. Wie Cristina hat er einen neuen Begriff gelernt, weiß, wie er ihn beschreibt. Und was wird auf dem nächsten Bild gefeiert? Die Klasse grübelt. "Das ist Weihnachten", meldet sich Larissa. Sie wird bald in die Regelschule wechseln können. Und was macht man mit dem Tannenbaum? Die Lehrerin blickt sich um. Shirin blättert in ihrem Wörterbuch. Abdul weiß es: "Der wird geschminkt." Er meine geschmückt, korrigiert Bek sensibel.

Keiner der Schüler, die schon länger in Deutschland sind, hat den Jungen ausgelacht. Sie hätten sofort eine Einheit gebildet, erklärt die Lehrerin das später. Das meist ähnliche Schicksal schweiße die Vorbereitungsklassen zusammen. "Sie wollen alle unbedingt weiterkommen. Und sie haben meist funktionierende Familien, die ihnen Rückhalt geben", erläutert auch Christine Heidbreder. Die Johannes-Rau-Rektorin kann auf eine langjährige Erfahrung in der Integrationsarbeit zurückblicken. "Und zwar mit Topkollegen", lobt Heidbreder. Mitte der 1990er-Jahre habe man schon die erste internationale Förderklasse unterrichtet. Mit dem Flüchtlingsstrom seit dem Frühjahr sei in guter Kooperation mit dem Schulamt die vierte Klasse gebildet worden. Eine davon ist die einzige Bonner Alphabetisierungsklasse. Diese Schüler könne man anfangs eben nicht mit den anderen unterrichten.

"Hier fallen keine Bomben"

"Aber alle sind dankbar und wissen: Hier fallen keine Bomben", betont Heidbreder. Wie tief das Trauma sitze, habe sich beim Feuerprobealarm gezeigt: Trotz Ankündigung sei ein irakisches Mädchen völlig zusammengebrochen. Und als die Klasse kürzlich einen Syrien-Film sah, habe eine Schülerin plötzlich sehr geweint, ergänzt Amelie Bek. "Sie hat die Abzeichen der Rebellengruppe erkannt, die vor ihren Augen ihre eigene Schule niederbrannte ."

Es gebe Schüler, die nach der Flucht nun wieder ins Kindsein zurückfielen. "Die sind manchmal mit den Gedanken ganz weit weg. Dann lassen wir ihnen Zeit. Wir holen sie sanft zurück", sagt Bek. Andere schlügen in Konflikten um sich. In Zusammenarbeit mit den Eltern könne man ihnen aber meist klarmachen, dass sie hier sicher seien, sagt die Rektorin. "Das sind inzwischen ganz liebe Kerlchen." Bei einem half jedoch alles nichts: Der habe so Schlimmes erlebt, dass das Jugendamt sich seiner annehmen musste. Heidbreder zuckt mit den Schultern. Eigentlich habe sie angesichts der großen Flüchtlingswelle aus dem Nahen Osten schon befürchtet, dass nun an der Schule auch "Zoff untereinander, also zwischen Muslimen und Christen" ausbrechen könnte, gibt sie zu. Aber nein, davon sei gar nichts zu spüren, bestätigt Lehrerin Bek. Religion sei kein Thema, über das man sich streite.

Mit ihrer Klasse startet sie nun in der nächsten Stunde ein Mitmach-Projekt zu vorbereiteten Fragen. Erst herrscht Unsicherheit. Was, sie sollen sich gegenseitig interviewen? Und dann ist die Sitzordnung aufgehoben. Der Syrerjunge befragt das irakische Mädchen. Miriam löchert den serbischen Klassenkameraden. "Sie sollen sich selbst artikulieren und nicht nur auswendig lernen", erklärt die Lehrerin am Rande. Klappt doch. Sie ist zufrieden. Nur ihre Klasse nicht ganz. Sie hätten die Fragen irgendwie langweilig gefunden. Die habe sich sicher ein Erwachsener ausgedacht, versuchen sie sich gemeinsam in Kritik. Amelie Bek muss lachen. "Ja, dann schreibt ihr mir jetzt mal eure Fragen auf. Ich bin gespannt."

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