Interview zur Flüchtlingsunterbringung im Rhein-Sieg-Kreis "Wir brauchen eine Perspektive"

Rheinbach · Die 19 Kommunen im Rhein-Sieg-Kreis stehen kurz vor dem Winter vor großen Herausforderungen. Es geht darum, eine noch nicht absehbare Zahl von Flüchtlingen aufzunehmen. Und das möglichst, ohne allzu viele Sporthallen oder Bürgerhäuser zu belegen. Mit dem Rheinbacher Bürgermeister Stefan Raetz, Sprecher der Bürgermeister im Rhein-Sieg-Kreis, sprach Hans-Peter Fuß.

Die Bürgermeister haben am Freitag mit Landrat Sebastian Schuster und einer Vertreterin der Bezirksregierung gesprochen. Sind die Irritationen um das Amtshilfeersuchen ausgeräumt?
Stefan Raetz: Ja. Es war ein gutes, offenes Gespräch. Wir konnten unsere Sorgen und Nöte deutlich machen. Wir sind an unseren Kapazitätsgrenzen angekommen. Die Kommunikation hat sich deutlich verbessert. In allen Kommunen gibt es Flüchtlingshelferkreise mit überaus engagierten Ehrenamtlichen. Diese Kooperation funktioniert einwandfrei.

Was wurde beschlossen?
Raetz: Erstens: Es wird keine neuen Notunterkünfte in den Kommunen geben. In ganz NRW stehen dafür 67 000 Plätze zur Verfügung. Dafür bekommen wir aber schneller und mehr Flüchtlinge in Dauerunterkünfte zugewiesen. Das ist zumindest besser planbar. Zweitens: Flüchtlinge aus sicheren Drittstaaten werden nicht mehr auf die Kommunen verteilt. Sie bleiben in den Landeseinrichtungen. Das ist für uns eine große Hilfe.

Wie werden die im Rhein-Sieg-Kreis ankommenden Flüchtlinge über den Winter kommen?
Raetz: Sie werden ein warmes Zuhause erhalten. Das ist selbstverständlich für alle Städte und Gemeinden. Nur: Es wird eng werden, da die Aufnahmekapazitäten schon jetzt teilweise erschöpft sind.

Sie haben das Krisenmanagement der Bezirksregierung scharf kritisiert. Was hat Sie besonders geärgert?
Raetz: Es wurde pauschal, ohne Kenntnis der jeweils örtlichen Situation, ad hoc verfügt, dass im Hau-Ruck-Verfahren weitere Notaufnahmeplätze zu realisieren sind. So geht das nicht. Es ist vorher das Gespräch mit den Kommunen zu suchen.

Was erwarten Sie von der Bezirksregierung?
Raetz: Eine klare und erkennbare Strategie. Wir brauchen Planungssicherheit statt Verwalten von Chaos. Auch gibt es eine faktische Obergrenze bei den Unterbringungsmöglichkeiten. Unsere Infrastruktur hat Grenzen. Wir müssen die Flüchtlinge schließlich auch angemessen menschlich unterbringen.

Sie haben die Bundeskanzlerin als Lotsin bezeichnet, die uns aufs offene Meer leitet. Warum?
Raetz: Das Hilfsangebot und die Aufnahmebereitschaft Deutschlands waren okay. Aber jetzt kommt die Phase der Überforderung. Wir werden die Welt nicht alleine retten können. Ich möchte wieder Land am Horizont sehen. Ein erkennbares Ende der Flüchtlingsströme oder berechenbare Belastungen würden viele Bürger beruhigen und motivieren, und erst dann können wir sagen: Ja, wir schaffen das! Oder auch nicht.

Was müsste die Bundesregierung gesetzlich in die Wege leiten, um die Zuwanderung künftig zu reduzieren?
Raetz: Es müssen feste Obergrenzen mit fairer Aufteilung in Europa her. Die Rückführung in sichere Drittstaaten muss tatsächlich und unmittelbar erfolgen. Die derzeitige Duldungspraxis ist deutlich einzuschränken. Wir benötigen auch ein Einwanderungsgesetz mit klaren Vorgaben.

Ist die Festsetzung einer andiskutierten Obergrenze für Asylsuchende verfassungsrechtlich überhaupt möglich? Grundrechte sind ja nicht quantifizierbar.
Raetz: Das ist typisch deutsch. Erst einmal schauen, warum es nicht geht. Ich sage: Einfach machen! Wie wollen wir sonst die neue Völkerwanderung stoppen?

Wie bewerten Sie die Rolle der EU?
Raetz: Ein Trauerspiel! Die Mächtigen Europas diskutieren und diskutieren. Ergebnisse: Null! Das gefährdet auch das Bekenntnis zu Europa. Wünschenswert wären einheitliche Standards. Nur wenn jeder Flüchtling überall die gleichen Ansprüche und Verhältnisse antrifft, können die Flüchtlingsströme auch angemessen verteilt werden.

Was halten Sie von Transitzonen?
Raetz: Ja, es muss sie geben. Wer nicht unter das Asylrecht fällt, darf nicht das System für die wirklich Hilfebedürftigen verstopfen. Dabei ist es aber vollkommen egal, wie diese Bereiche benannt werden. In den Kommunen dürfen nur die Menschen ankommen, deren Asylantrag begründete Aussicht auf Erfolg hat.

Was kann der Rhein-Sieg-Kreis tun, um die Flüchtlinge angemessen unterzubringen?
Raetz: Der Rhein-Sieg-Kreis hat seine Turnhallen für die Notaufnahme zur Verfügung gestellt. Das ist wahre Solidarität mit den Kommunen.

Welches Unterbringungskonzept schlagen Sie vor?
Raetz: Zunächst alle an den Grenzen aufnehmen und erfassen. Eine längst überfällige konsequente Anwendung des Artikels 16 a unseres Grundgesetzes. Wer aus sicheren Drittstaaten kommt, muss unmittelbar Deutschland wieder verlassen und dorthin zurückgeführt werden. Eine schnelle Prüfung, wer überhaupt eine Chance auf Asyl hat, ist notwendig. Dann sollten die Menschen auf die Kommunen verteilt werden.

Sind noch genügend Container auf dem Markt zu haben?
Raetz: Man bekommt kaum noch Wohncontainer. Die Preise sind inzwischen astronomisch. So um die 30 000 Euro, je nach Größe. Das ist auch ein Geschäftsmodell geworden.

Können Sie sich die Unterbringung in Holzhäusern vorstellen?
Raetz: Ja, die Holzständerbauweise ist durchaus eine gute Alternative, da zügig aufbaubar. Wir benötigen schnell weitere Unterbringungsmöglichkeiten. Wo so etwas in Rheinbach realisierbar ist, müssen wir prüfen. Schließlich wird eine solche Unterkunft über Jahre genutzt werden müssen.

Wo sind im Rhein-Sieg-Kreis noch Immobilien oder Flächen, die sich für Flüchtlingsheime eignen?
Raetz: Jede Kommune überprüft zurzeit ihr Gebiet. Es gibt noch vereinzelt Flächen, die auch hierfür nutzbar sind. Nur müssen wir die Stadtentwicklung insgesamt im Auge behalten und nur dort Flüchtlingsheime errichten, wo es zu keiner Ghettobildung kommt, die die notwendige Integration erschwert. Und nicht dort, wo die Stadtentwicklung auf nicht absehbare Zeit nachhaltig behindert oder dauerhaft geschädigt würde.

Rechnen Sie damit, dass die Zuwanderung in absehbarer Zeit nachlässt?
Raetz: Nein. Der Zustrom ist die letzten beiden Monate nochmals deutlich gestiegen. Ein Abebben ist nicht erkennbar. Daher mein Appell: Frau Bundeskanzlerin, handeln Sie!

Viele Kommunen im Kreis melden, sie hätten kaum noch freie Kapazitäten, befürchten die Zerstörung dörflicher Strukturen, wenn beispielsweise Dorfhäuser oder Sporthallen für die Unterbringung genutzt werden. Existiert für Sie eine Zumutbarkeitsgrenze? Oder müssen die Bürger diese Auswirkungen angesichts des Leids der Flüchtlinge hinnehmen?
Raetz: Ja, es werden mühsam aufgebaute Strukturen leiden. Wenn in den Dörfern alle Hallen belegt sind, dann sind Vereine und Gemeinschaften gefährdet. Das macht mir große Sorgen. Die Bürger sind bereit Einschränkungen hinzunehmen - aber nur, wenn sie eine Belastungsgrenze erkennen. Ein Licht am Ende des Tunnels ist jedoch nicht sichtbar, da der Tunnel immer wieder verlängert wird! Deshalb brauchen wir ein klares Konzept und eine Perspektive, sonst ist am Ende der soziale Friede gefährdet. Das will niemand.

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