Bonn und der Rhein-Sieg-Kreis Wie Asylsuchende zu uns kommen

RHEIN-SIEG-KREIS/BONN · Die Zahl der Asylsuchenden erreicht dieses Jahr einen neuen Höchstwert. Das Verteilungssystem gerät an seine Grenzen, die Städte und Gemeinden schlagen Alarm. Die NRW-Bürgermeister wollen am Freitag bei der Landesregierung mehr Hilfe einfordern.

Im Sommer 2013 hatten Mustafa K. (alle Namen von der Redaktion geändert) und seine Familie genug: Sie wollten raus aus ihrer Heimat, dem Iran. Der Grund: politische Verfolgung. Also besorgte Mustafa K. für sich, seine Frau Miriam und Sohn Reza ein italienisches Visum. Doch in Italien landete die Familie nie, sie wollte nach Deutschland, hier wohnt ein Verwandter im Großraum Bonn.

Mit dem Flieger kamen sie über ein arabisches Land nach Düsseldorf, wo sich das Trio asylsuchend meldete. Von dort führte der Weg in die Zentrale Unterbringungseinrichtung in Dortmund, schließlich landeten sie in einer Unterkunft in Sankt Augustin, wo sie bis heute wohnen. Mustafa K. darf als Aufenthaltsgestatteter mittlerweile arbeiten. Und Reza geht zur Schule. Eigentlich müsste die Familie wegen des italienischen Visums nach Italien abgeschoben werden, aber derzeit klagen sie auf ihre Zulassung in Deutschland.

Der Weg von Mustafa K. und seiner Familie nach Deutschland ist ein möglicher, es existieren viele weitere. Die Bundesrepublik Deutschland verteilt die Flüchtlinge eigentlich nach einem festen Prinzip - doch angesichts der steigenden Flüchtlingszahlen gibt es mittlerweile viele Umwege. "Jeden Tag kommen 1000 Asylbewerber nach NRW, da ist viel Improvisation gefragt", sagt Christian Chmel-Menges, Sprecher der verantwortlichen Bezirksregierung Arnsberg. Der GA schildert die Route der Flüchtlinge von ihrer Ankunft bis in die Kommunen am Beispiel von NRW.

  • Das Easy-Verfahren: "Easy" steht für die "Erstverteilung von Asylbegehrenden". Mittels dieses Computer-Verfahrens verteilt der Bund die Asylsuchenden auf die Erstaufnahmeeinrichtungen der Länder - nach zwei Prinzipien. Erstens: Nicht jede Außenstelle des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) bearbeitet jedes Herkunftsland der Asylsuchenden. Die fünf NRW-Stellen etwa befassen sich unter anderem nicht mit Kamerun. Der Grund: Nicht in jeder Außenstelle kann bundesweit das Wissen über die Zustände in den jeweiligen Ländern nachgehalten werden. Es ist wichtig zur Bearbeitung der Asylanträge. Das zweite Easy-Prinzip ist der Königsteiner Schlüssel.
  • Der Königsteiner Schlüssel: Er legt fest, wie viele Asylbewerber jedes Bundesland aufnehmen muss. Die Kriterien: Steuerkraft und Bevölkerungszahl. Das bedeutet für dieses Jahr: NRW muss 21,24 Prozent aller Asylsuchenden aufnehmen. Der Schlüssel wird jedes Jahr neu berechnet.
  • Erstunterkunft (EAE): Zunächst müssen die Flüchtlinge in eine der fünf regulären Erstaufnahmeeinrichtung (EAE) des Landes in Dortmund, Bielefeld, Unna, Bad Berleburg oder Burbach. Dort bleiben sie etwa eine Woche, manchmal aber nur einen Nachmittag. "Dortmund ist mittlerweile eine reine Durchlaufstation", sagt Chmel-Menges. In diesen Einrichtungen registrieren die Behörden die Menschen, sie erhalten ihre Bescheinigung über die Meldung als Asylsuchender (BüMA). Zudem untersuchen Ärzte sie.
  • Zentrale Unterbringung (ZUE): Aus den fünf ersten Anlaufstellen verteilt das Land die Flüchtlinge auf die aktuell 21 zentralen Unterbringungseinrichtungen. Zwei Beispiele aus der Region sind das Flüchtlingsheim in Bonn-Muffendorf und ab Oktober die frühere Medienzentrale der Bundeswehr in Sankt Augustin. Aufgrund der Vielzahl an Flüchtlingen greift die Bezirksregierung Arnsberg auf Hilfe zurück, so ist die Bezirksregierung Köln für ihren Regierungsbezirk und auch Bonn und den Rhein-Sieg-Kreis zuständig.

Im Durchschnitt bleiben die Flüchtlinge zwei bis drei Wochen in den Einrichtungen. In dieser Zeit stellen sie ihren Asylantrag, dazu werden sie per Bus wieder in eine der fünf Erstaufnahmestellen gebracht, wo sich die Außenstellen des BAMF befinden. Das dauert laut Chmel-Menges oft nur einen Tag. Und: Sie erhalten ihre Aufenthaltsgestattung für die Dauer des Asylverfahrens. Danach kommen die Flüchtlinge in die Unterkünfte der 396 Kommunen in NRW, wo sie das Ende ihres Asylverfahrens abwarten. Wie gesagt: Das ist der Idealfall, doch er ist oft nicht möglich, weil der Flüchtlingsstrom nicht abreißt. Deshalb gibt es einen Umweg: die Notunterkünfte des Landes.

  • Notunterkünfte des Landes: Derzeit strömen mehr Asylsuchende nach Deutschland als in den Vorjahren, das Bundesinnenministerium geht von etwa 800.000 in 2015 aus. Nach dem Königsteiner Schlüssel berechnet ergibt das 170.000 Flüchtlinge für NRW. Heißt: Der vorgezeichnete Weg ist nicht einzuhalten.

Deshalb kommen laut Chmel-Menges viele Flüchtlinge nach ihrer Station in den fünf Erstunterkünften nicht in eine der 21 ZUEs. Sie müssen direkt an die Kommunen weitergeleitet werden - etwa in die Notunterkünfte des Landes in Troisdorf, Hennef, Siegburg, Königswinter oder Bornheim. In ihrer Not greifen die Kommunen häufig auf Turnhallen zurück.

Ein am Prozess Beteiligter sagte zum GA: "Das ist, wie wenn das Wasser im Waschbecken überläuft und man Eimer unterstellt, um das überlaufende Wasser aufzufangen." Einige Flüchtlinge sehen die EAE gar nicht: Sie kommen direkt etwa vom Flughafen in eine Notunterkunft. Das seien laut Chmel-Menges aber nur wenige. Von den Notunterkünften aus führt der vorgesehene Weg eigentlich zur ZUE und von dort in die regulären Einrichtungen in den Kommunen, doch aktuell verteilt die Bezirksregierung auch von den Notunterkünften direkt in die Kommunen.

  • Unterkünfte in den Kommunen: In den Städten und Gemeinden werden die Menschen im Idealfall auf vorhandene Bleiben - etwa Wohnungen - verteilt. Dort warten sie auf die Bearbeitung ihrer Asylanträge. Doch das BAMF hängt damit hinterher. Deshalb hoffen und bangen die Menschen weiter - so wie Mustafa K. und seine Familie aus Sankt Augustin.

Nachgefragt

Am Freitag sprechen die Bürgermeister aus NRW bei Innenminister Ralf Jäger vor. Mit dabei: ein Teil der 19 Rathauschefs aus dem Rhein-Sieg-Kreis und auch ihr Sprecher Stefan Raetz (Rheinbach). Das Thema: das steigende Flüchtlingsaufkommen in den Kommunen. Mit Raetz sprach GA-Redakteur Matthias Hendorf.

Herr Raetz, was erwarten Sie von dem heutigen Treffen?
Stefan Raetz: Ich erwarte, dass die Landesregierung mehr Bewusstsein für die Probleme der Kommunen entwickelt. Wir sind an der Belastungsgrenze angelangt, sowohl was die Aufnahme der Menschen als auch die Finanzierung angeht. Gewalt unter den Flüchtlingen und Drohungen gegenüber Mitarbeitern sind keine Ausnahmen mehr.

Wann ist das Treffen ein Erfolg?
Raetz: Wenn wir wissen, wie es in Zukunft weitergeht.

Was heißt das konkret?
Raetz: Dass das Land ein Gesamtkonzept für das nächste Jahr vorstellt und erkennbar wird, dass nicht einfach immer mehr Menschen an die Kommunen weitergeschoben werden.

Lässt das Land Sie im Stich?
Raetz: Ja, das Land gibt die Probleme einfach weiter. NRW nimmt jede Woche 7000 Flüchtlinge auf, dass sind mehr als in Italien und Frankreich zusammen. Und wir Kommunen sind die letzte Station, die sich um die Menschen kümmert.

Den Letzten beißen die Hunde?
Raetz: Ja. Aber wir weisen niemanden ab. Wo sollen die Menschen denn sonst hin?

Wie könnte man die Probleme lösen?
Raetz: Ich werde Jäger einen unkonventionellen Vorschlag machen: Wenn die 396 Kommunen und 31 Kreise dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge jeweils einen Verwaltungsmitarbeiter abstellen, um die aufgehäuften Asylanträge abzuarbeiten, ist das eine große Hilfe.

Ist das schon mit den anderen Kommunen abgesprochen?
Raetz: Nein, aber die werden dabei sein, da bin ich mir sicher. Wenn der Bund uns nicht hilft, helfen wir eben dem Bund.

Die Bürgermeister des Kreises haben einen Arbeitskreis Flüchtlinge gebildet. Was macht der?
Raetz: Wir erarbeiten derzeit einen Leitfaden für Kommunen, die kurzfristig Notunterkünfte zur Verfügung stellen müssen. Es gibt zwar ein Handbuch von der Bezirksregierung Münster, aber das hat 240 Seiten und ist ein bürokratisches Monster. Das wollen wir vereinfachen.

Haben die noch nicht betroffenen Kommunen Notfallpläne in den Schubladen liegen?
Raetz: Ja. Und nach Siegburg dürften jetzt Niederkassel und Lohmar dran sein.

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