Doku aus syrischem Flüchtlingslager Saad, zehn Jahre, Krieger

Köln/Azaz · Syrische Flüchtlinge riskieren oft ihr Leben, um in Europa ein neues Leben zu beginnen. Doch warum nehmen sie diese Gefahr auf sich? Hubertus Koch hat ein syrisches Flüchtlingslager besucht, seine Dokumentation schildert eindringlich das Elend vor Ort. Bereits im März erzählte der GA Kochs Geschichte. Eine Reportage, die heute in Zeiten voller Flüchtlingsunterkünfte in Deutschland und rechtsextremer Gewalt gegen Asylsuchende aktueller denn je ist.

Ein türkisches Café in Köln-Ehrenfeld. Es ist Ende Februar und Hubertus Koch ist erst wenige Wochen aus dem Urlaub zurück. Ein Urlaub, der dringend notwendig war. Er bestellt sich eine Linsensuppe, für das Frühstück kommt er um kurz nach elf Uhr am Vormittag schon zu spät. Im Dezember schloss der Dokumentarfilmer ein einjähriges Projekt ab – eines, das ihn nicht loslässt. Koch war in Syrien, besuchte als 24-Jähriger das Flüchtlingslager Bab Al-Salameh an der türkischen Grenze und drehte die Dokumentation „Süchtig nach Jihad“. Eine Dokumentation, die seine Lebenswelt veränderte.

„Ich bin demütiger gegenüber dem Glück geworden, was einem selbst widerfährt. Hier wird kein Jeep mit einer Autobombe beladen durch die Scheibe fahren. Hier wird nichts passieren“, sagt er mit Blick aus dem Fenster. Es sind Begegnungen mit Kindersoldaten sowie Bilder von hungernden und verletzten Menschen und von Kindern, die an den Resten eines Autos spielen, das erst vor wenigen Tagen durch eine Bombe völlig zerstört wurde, die ihn diese Demut gelehrt haben.

Im November 2013 hat Koch den Plan, eine Dokumentation zu drehen. Abitur in Bonn, Germanistikstudium in München und die dreijährige Mitarbeit bei einem Sportsender liegen hinter ihm. „Ich war gelangweilt vom Job und liebe das Genre Dokumentarfilm.“ Der Vater einer ehemaligen Kommilitonin – ein in München lebender Syrer – organisiert seit Jahren Hilfstransporte nach Syrien, will auf türkischer Seite der Grenze ein Kinderheim aufbauen. Mahmoud Dahi will auch Ende Februar 2014 wieder nach Syrien reisen und neben Lebensmitteln und Kleidung auch zwei deutsche Rettungswagen mit nach Syrien bringen. Koch begleitet ihn und betritt am 1. März 2014 zum ersten Mal syrischen Boden. Schon wenige Stunden später – beim Mittagessen im Lager – wird er innerlich auseinander brechen.

Sein Plan, Mahmoud Dahi mit der Kamera zu begleiten, scheitert schon an der Grenze. Der syrische Grenzposten lässt ihn nicht ins Land. „Er sah meine Kamera und mein Stativ und sagte, ich solle mein Leben nicht für ein Bild riskieren“, so der heute 25-Jährige. Also dreht Koch um, bringt die große Kamera zurück ins nahe gelegene Hotel auf türkischer Seite, wo er und Dahi wohnen, und steckt sich eine kleinere ohne Display in die Hosentasche. Auch die Digitalkamera von Dahi nutzt er. So gelingt der Schritt auf die syrische Seite und direkt in das Flüchtlingslager Bab Al-Salameh.

Müll, Dreck und Gestank

Ihm präsentiert sich eine Szenerie, die ihm – so sagt er später – „das Blut in den Adern gefrieren lässt“. Es gibt keine Straßen, er stolpert über die Steine am Boden. Am Wegesrand sitzen heulende Kinder, andere prügeln sich, ein paar sitzen neben den Zelten der Familien und tun einfach nichts. Tausende Menschen sind hier zusammengepfercht, in einfachen Zelten untergebracht. Es stinkt, überall liegt Müll. Mitten durch das Lager zieht ein Strom aus Fäkalien und Schlamm. Viele Kinder haben keine Schuhe an – und wenn, dann meist nur Sandalen oder Flip-Flops. Mit dem Müll und Dreck an den Füßen gehen sie in die Zelte. „Es ist einfach katastrophal“, sagt Koch. Zwischen den vielen unterschiedlichen und unangenehmen Gerüchen setzt sich ein Gestank besonders in seiner Nase fest: der nach Feuer, nach Kohle. Er kommt von den Kohleöfen, mit denen die Zelte geheizt werden. „Ein so lebensfeindlicher Ort hat mich total erschlagen.“

Dokumentation "Süchtig nach Jihad"
18 Bilder

Dokumentation "Süchtig nach Jihad"

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[kein Linktext vorhanden] Mittendrin bildet sich schnell eine Traube aus neugierigen und spielenden Kindern um die beiden Besucher . Koch stellt sich als „Hubi“ vor, schnell spricht sich der Name herum, von überall ertönen die Kinderrufe nach „Hubi! Hubi!“. Mahmoud Dahi ist im Lager bekannt und Koch kommt nicht mit großer Kamera oder einem ganzen Team. „Es gab einfach keine Distanz.“ Schnell muss er Tränen unterdrücken. „Es war zwar schön zu sehen, dass sich die Kinder freuen, aber auch unendlich traurig, wie sie hier leben müssen.“ Und dann sieht „Hubi“ die Kinder genauer an, entdeckt bei vielen Brandwunden oder offene Ausschläge. Ein Mädchen erzählt ihnen, dass ihre Brandwunden von ihrer Familie mit Eiern behandelt werden. Eine Salbe gibt es nicht. „Der erste Tag hat mich ausgeknockt, mich auf den Nullpunkt gebracht.“ Dabei sollte die bitterste Begegnung erst noch folgen.

Ein Kind jagt Terroristen

Um etwas Ruhe zu bekommen, besuchen beide das Zelt von Abu Hussein und seiner Familie – einem Freund von Dahi. Als sie beim Essen sitzen, geht das Zelt auf und zwei bewaffnete Soldaten der Freien Syrischen Armee kommen herein. Es sind Freunde der Familie, sie wollen kurz Hallo sagen. Einer von ihnen ist Mitte dreißig, der andere ist Saad. „Er kam rein wie Rambo, mit breiten Schultern, aufgerichtet. Seine Bewegungen, seine Gestik, sein Benehmen – er sah aus wie ein erwachsener Mann.“ Doch Saad ist erst zehn Jahre alt, die Zigarette im Mund, die Kalaschnikow in der Hand. Saad hat seine Familie im Krieg verloren, seine neue Familie ist die Freie Syrische Armee. Er lebt das Leben eines Soldaten, kämpft gegen ISIS-Terroristen – und findet das toll. „Aber das ist nicht die freie Entscheidung eines Zehnjährigen“, ist Koch sofort klar.

Wenige Minuten sind die beiden im Zelt, dann knarzt das Walkie-Talkie der Soldaten. Zwei ISIS-Kämpfer sind um die Ecke des Lagers gesichtet worden. Da kommt auch in Koch die Angst hoch, immerhin ist die ISIS gerade einmal wenige Tage zuvor aus der Gegend vertrieben worden, der letzte Autobomben-Anschlag auf das Lager liegt nur zehn Tage zurück. Saad geht wie selbstverständlich los mit seinem Begleiter. „Ich wollte nur noch losheulen, musste aber mein Gesicht vor der Familie und den beiden Soldaten wahren. Wer bin ich, Angst zu haben, wenn ein Zehnjähriger die Terroristen abknallen geht?“, fragt sich der 25-Jährige in diesem Moment.

Warum macht Dahi das? Warum verbringt der in München lebende Syrer so viel Zeit freiwillig an diesem Ort? Auf dem Rückweg ins Hotel schlägt der Syrer dem Kölner lachend auf die Schulter. „Verstehst du jetzt? Das ist meine Welt.“ Koch hat längst verstanden. Wie wichtig die Hilfe ist, zeigt sich schon am nächsten Tag. Einer der Kohleöfen in den Zelten kippt um, gleich mehrere Zelte fangen Feuer. Dahi kümmert sich sofort um neue Zelte – die betroffenen Familien sind dazu nicht mehr in der Lage. „Der Vater war vorher der Versorger in der Familie, jetzt hat er nichts mehr. Seit 2012 sitzen die Menschen da und warten. Hoffen, dass sie wieder nach Hause können. Die Erwachsenen leiden genauso wie die Kinder“, sagt Koch. Es dauert Tage, bis die Familie den Aufbau der Zelte gestemmt bekommt.

Ein simpler Satz mit großer Wirkung

Einen Tag geht Koch auch ohne Dahi nach Syrien, nur Abu Hussein begleitet ihn. Koch spricht kein Arabisch. Als eine Frau mit einem Baby zu ihm kommt, kann er sie nicht verstehen. Er deutet nur an: Sprich! Und sie spricht, sagt in die Kamera, dass die Menschen im Camp keinen Reis mehr brauchen. Sie brauchen Ärzte für die Kinder, denn die seien alle krank. Dann trifft Koch einen Mann, der ein wenig Englisch spricht. Er will nicht gezeigt werden, also stellt Koch die Kamera zur Seite. Sie läuft weiter und filmt, wie Kinder vor ihr spielen, ein Junge ein Stahlrohr als Gewehr nutzt. Sie kennen nur Krieg. Koch spricht in der Zeit mit dem Mann und beendet das Gespräch mit dem aus seiner Sicht simplen Satz: „Es tut mir leid, was mit eurem Land passiert ist.“ Der Mann unterbricht ihn, übersetzt für alle anwesenden Zuhörer. Und diese bedanken sich bei Koch, sehen den Menschen hinter dem Filmemacher. „Das zeigte schon eine große Wirkung.“

Ins Landesinnere zu reisen, war nie geplant – zu gefährlich. Der Weg nach Azaz ist dann aber frei, die ISIS vertrieben. Koch bieten sich die Bilder von zerbombten Wohngebieten, zerfallenen Häusern und zerstörten Leben. Als sie gerade in einem Wohngebiet ein paar Sequenzen drehen, kommt ein alter Mann auf sie zu. „Aufnehmen könnt ihr, aber helfen kann hier keiner“, ruft er ihnen zu. Danach erzählt er von seinem Leben, seinen toten Kindern, seinem zerstörtem Haus, von dem nichts außer einem kleinen Zimmer geblieben ist. „Die Hilfsorganisationen helfen zuerst den Flüchtlingen. Was ist mit uns, die hier noch leben? Wie bekomme ich etwas zu essen?“ Der Krieg hat auch das Leben der Menschen zerstört, die heute noch ein kleines Zimmer und eine Arbeit haben.

Der 8. März ist der letzte Tag von Koch in Syrien. Es geht zurück nach Köln, zurück in sein Leben. An eine Auszeit ist nicht zu denken. „Ich musste ständig an dem Film arbeiten. Meine Lebenswelt war nicht mehr die gleiche. Partys waren belanglos, ich habe mich abgekapselt.“ Zwei Monate später erhält er eine Nachricht aus Bab Al-Salameh. Wenige Kilometer vom Camp entfernt ist wieder eine Autobombe explodiert. Mahmoud Dahi ist auf türkischer Seite, als es passiert. Abu Hussein sendet Koch ein Handyvideo aus dem Krankenhaus. Ihm geht es gut, aber es gibt zahlreiche Tote und Verletzte. „Ich habe mich gefühlt, als hätte ich einen nahen Angehörigen verloren. Die Menschen dort versuchen doch nur, ihr Leben zu leben.“

Mit einer Botschaft zurück nach Deutschland

Seine Dokumentation soll aufrütteln, gerade durch die subjektive Betrachtung junge Menschen erreichen. Mahmoud Dahi sagte ihm zu Beginn, Koch sei ein Botschafter. Das sieht Koch jetzt ähnlich. „Ich habe eine Menge zu sagen. Habe meine Schlüsse gezogen und möchte einen neuen Input liefern. Die Botschaft lautet: Schaut nach Syrien!“

Vor ein paar Monaten hat der Kölner Bilder vom Krieg gegen den IS in Syrien gesehen. Ein Journalist, der hautnah am Kriegsschauplatz war, filmte das Geschehen. Mittendrin lief ein kleiner Soldat durchs Bild. „Ich habe ihn sofort erkannt.“ Es war Saad. Er kämpft jetzt an der Front.

Die Dokumentation "Süchtig nach Jihad"

Die Erzählweise des Films entspricht den Vorstellungen des Autors Hubertus Koch und liegt nicht in der Verantwortung der Redaktion des General-Anzeigers. Die in dem Film geäußerten Meinungen spiegeln das subjektive Empfinden Kochs nach und besitzen keine Allgemeingültigkeit. Die Dokumentation ist für Zuschauer unter 16 Jahren nicht zu empfehlen.

Die 30-Minuten-Fassung der Dokumentation gibt es in der ARD-Mediathek.

Weitere Informationen zu Hubertus Koch und seiner Dokumentation gibt es bei Facebook oder unter www.suechtig-nach-jihad.de.

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