Wachsende Zahl von Flüchtlingen Kampf um die Schengen-Freiheiten

BRÜSSEL · Der französische Staatspräsident hatte offenbar genug davon, dass immer mehr europäische Amtskollegen an einer der Säulen der Freiheit in der EU rütteln. "Manche wollen uns glauben machen, dass eine Rückkehr auf die nationalen Grenzen eine Wunderlösung wäre", sagte François Hollande am Dienstag in Paris. "Das ist eine Täuschung."

Der weiter wachsende Zahl von Flüchtlingen und die Reiseroute des mutmaßlichen Attentäters, der im Thalys-Schnellzug nach Paris ein Blutbad anrichten wollte, haben die Diskussion befeuert. Das Schengen-System steht vor "großen Problemen", meinte Österreichs Außenminister Sebastian Kurz.

Auch Belgiens Premier Charles Michel will über den vor 30 Jahren geschaffenen Raum der Reisefreiheit diskutieren, falls die Polizei nicht in der Lage sei, Reisenden ausreichend Sicherheit zu garantieren. Und sogar Bundeskanzlerin Angela Merkel warnte vor einem Scheitern, wenn man die Probleme nicht in den Griff bekomme.

Prompt reagierte die Brüsseler EU-Kommission und bezeichnete am Wochenanfang die Vereinbarung über die Reisefreiheit als "nicht verhandelbar". Man habe auch nicht die Absicht, "das Abkommen zu ändern". Das erscheint in der Tat unnötig, wenn die Mitgliedstaaten den Vertrag nur richtig anwenden würden.

Denn der Schengen-Kodex, dem außer Großbritannien, Irland und Zypern alle anderen 25 EU-Staaten sowie die Schweiz, Norwegen, Liechtenstein und Island angehören, lässt nach der Überarbeitung im Vorjahr viele Instrumente zu, um im Fall einer "schwerwiegenden Bedrohung der öffentlichen Ordnung oder inneren Sicherheit" zu reagieren. Befristete Grenzschließungen bis zu sechs Monaten (in Extremfällen bis zu zwei Jahren) sind da ebenso möglich wie eine Schleierfahndung der Polizei im grenznahen Raum.

Vor allem aber verpflichtet der Schengen-Vertrag die Mitglieder zur Sicherung der gemeinsamen EU-Außengrenze, was derzeit nicht gegeben ist. Griechenland, Italien und Spanien lassen immer wieder Flüchtlinge ungeprüft auf europäischen Boden und mit einem Touristenvisum ausgestattet in die übrige Gemeinschaft weiterreisen.

In Ungarn entsteht zwar gerade ein Grenzzaun zu Serbien, der umstritten ist, aber wohl auch mehr ein innenpolitisches Instrument sein soll, um Premier Viktor Orban als harten Mann hinzustellen. Das Problem des Zauns: Er steht 100 Meter hinter der geographischen Grenze zu Ungarn: Wer das Metallgitter erreicht hat, befindet sich bereits auf europäischem Boden. Aber Schengen steht nicht alleine.

Während das Abkommen die Reisefreiheit im Inneren durch eine strikte Kontrolle der Außengrenzen sicherstellen soll, regelt die Dublin-II-Vereinbarung die Verteilung von Immigranten innerhalb der Union: Der Staat, in dem ein Asylbewerber den Boden der EU betritt, ist für die Abwicklung des Verfahrens sowie die Anerkennung oder Ausweisung zuständig. "Dies funktioniert derzeit nicht mehr", sagt Österreichs Außenminister Sebastian Kurz.

Deshalb will man in Brüssel bis zum Jahresende eine neue Regelung finden, nachdem eine freiwillige Verteilquote gescheitert ist. Dabei soll vor allem die Liste der sicheren Herkunftsstaaten erstens europäisch harmonisiert und zweitens erweitert werden. Es könne nicht sein, dass offizielle Beitrittskandidaten wie die Balkanländer nach wie vor als unsichere Drittstatten gelten, deren Flüchtlinge hierzulande Asyl beantragen könnten, heißt es in der Kommission.

"Man muss Dublin II neu ausbalancieren, um Schengen zu retten", meinte gestern ein hoher EU-Diplomat. "Sonst geht beides am Ende den Bach runter."

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