Mediensucht: Flucht vor Einsamkeit und Schulstress

Mediensucht ist eine weitere Schattenseite des Internets. In China ist sie bereits zum Massenproblem angewachsen.

Peking. Eines Abends im November holte Schulrektor Wang seinen Sohn vom Computer weg, nach wenigen Minuten saß die Familie im Auto nach Peking. "Ich dachte zuerst, sie wollten mich wieder mal zum Psychiater bringen", erinnert sich der 18-Jährige. "Das kannte ich schon."

Er sollte sich irren. Es ging zu einem Armeegelände, zur "Abteilung für Internet-Sucht" des Pekinger Allgemeinen Militärkrankenhauses. Zwei Monate später sitzt Wang Wen im Büro der Klinik und erzählt: "Am liebsten hätte ich damals alles zerschlagen." Draußen ertönen knappe Rufe. Die tägliche Sportstunde unter Anleitung eines Soldaten beginnt, auf dem Programm steht Marschieren und Gymnastik.

Endstation Internet-Entzug: Wie der Schüler Wang Wen landen mittlerweile jährlich Tausende chinesische Kinder und Jugendliche in Kliniken und Camps, die sich auf Mediensucht spezialisiert haben. Mit welch drastischen Mitteln manche Kliniken vorgehen, haben Chinas Medien aufgedeckt.

Aufsehen erregte zum Beispiel der Fall des 15-jährigen Schülers Deng Senshan, der in einem Entzugs-Lager Anfang August starb, nur wenige Stunden nach seiner Einlieferung. Deng brach beim Drill im "Hisst-die Segel-Rettungs-Trainingscamp" in der Südwest-Provinz Guangxi beim Dauerlauf vor Erschöpfung zusammen. Offenbar wurde er von den Mitarbeitern geschlagen - bis er sich nicht mehr regte.

Anderswo warben die Ärzte einer Klinik mit den großen Erfolgen ihrer Elektroschocks, die so oft wiederholt wurden, bis die Patienten versprachen, nie wieder ein Computerspiel anzurühren. Sie hatten Zulauf von Eltern, die ihre Kinder um jeden Preis kurieren wollten. Doch nach einer hitzigen Debatte in der chinesischen Öffentlichkeit verboten die Behörden die Elektroschocktherapie.

Dr. Tao Ran (48) von der Internet-Suchtabteilung des Pekinger Militärkrankenhauses versichert, sich an erprobte Sucht-Therapien zu halten, mit Sport und Schulunterricht, Gruppen- und Einzelgesprächen. Zu dem Arzt und Psychologen, der Erfahrung mit Alkohol- und Drogenabhängigen hat, kamen erstmals im Jahr 2004 besorgte Eltern, weil ihre Kinder sich im Internet-Café herumdrückten, anstatt in die Schule zu gehen. Chinesische Medien sprechen von "über 24 Millionen" junge Chinesen, die abhängig seien. Ein Merkmal der Sucht: Manche Jugendlichen werden aggressiv, wenn man ihnen den Computer verbietet.

Hinter dem Unglück der Schüler, die unter Einsamkeit leiden, steckt noch mehr: der geballte Druck von Elternhaus und Schule, der den Kindern keine Luft lässt und in die Parallelwelten der Internet-Spiele treibt. "Für viele Lehrer und Familien gibt es nur noch einen einzigen Maßstab: Gute Unterrichtsnoten - gutes Kind."

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