Interview mit BICC-Direktor "Milizionäre verursachen riesige Kosten"

Bonn · Friedens- und Konfliktforschung sind die Themen des Internationalen Konversionszentrums Bonn (BICC) - heute wie bei seiner Gründung vor 20 Jahren. Mit Direktor Conrad Schetter sprach Annette Claus.

Zur Zeit der Gründung des BICC nach dem Ende des Kalten Krieges spielte Konversion eine große Rolle. Inzwischen ist die Umwandlung militärischer Einrichtungen zum großen Teil abgearbeitet. Ist Ihre Institution damit hinfällig geworden?
Conrad Schetter: 1994 gab es viele Bundeswehr- und Nato-Standorte, für die sich die Frage stellte: Was geschieht mit ihnen? Ein berühmtes Beispiel: In Kevelaer wurden aus Bunkern Pferdeställe und Pilzgewächshäuser. Der Begriff der Konversion war Ende der achtziger, Anfang der neunziger Jahre in aller Munde und hat dann schnell an Bedeutung verloren.

Also sind Sie jetzt überflüssig?
Schetter: Nein. Konversion ist nach wie vor enorm wichtig. Allerdings nicht mehr rein bezogen auf Liegenschaftskonversion, die immer nur ein Teilbereich von Konversion war. Es geht darum, wie man "aus Schwertern Pflugscharen" machen kann, um den Bibelspruch zu zitieren ...

... der auch ein Spruch der Friedensbewegung war.
Schetter: Ja. Die Frage lautet: Wie kann man Militärisches ins Zivile überführen? Die Antwort sieht natürlich in der heutigen, hochkomplexen Welt anders aus als vor 20 Jahren. Es gibt viele innerstaatliche Kriege, viele Kriege, die auf Nachbarstaaten übergreifen, Interventionspolitiken, Drohnen - eine völlig veränderte Situation. Man kann Konversion nicht als einen linearen Prozess verstehen. Wir erleben gegenwärtig umgekehrt viele Bereiche, in denen das Zivile ins Militärische übergeführt wird. Und wir haben viele Bereiche, in denen beides gleichzeitig gedacht wird, sogenannte Dual-Use-Nutzungen.

Ein Beispiel?
Schetter: Drohnen. Sie wurden sowohl für den zivilen als auch für den militärischen Bereich entwickelt. Oder Spionageabwehr. Im technologischen Bereich der Informationstechnik gibt es sehr viele Dinge, die sowohl zivil als auch militärisch genutzt werden. Gleichzeitig erleben wir, dass das Militär in den zivilen Bereich hineinwirkt - vor 20 Jahren undenkbar. Nehmen Sie etwa in Afghanistan die "Provincial Reconstruction Teams" - das Militär beschäftigt sich dort mit zivilem Wiederaufbau. Wir vom BICC betrachten bei diesen Verschiebungen zwischen Zivilem und Militärischem alle Themen, die mit Gewalt zu tun haben. Eine große Rolle spielt die Frage: Was geschieht mit ehemaligen Milizionären? Wie kann man Milizionäre in Südsudan, Darfur oder in Afghanistan demobilisieren und wieder in Gesellschaften integrieren?

Helfen Sie vor Ort oder forschen Sie theoretisch?
Schetter: Wir versuchen, unsere Wissenschaft in Beratungsvorhaben umzusetzen. Wir gehen von einem Kreislauf aus, in dem wir Wissen erarbeiten, das wir dann direkt im Feld anwenden. Und aus dieser Anwendung ergeben sich wieder neue Forschungserkenntnisse. Im Südsudan zum Beispiel beraten unsere Mitarbeiter, die teilweise schon jahrelang vor Ort sind, die Kommissionen, die sich mit der Reintegration ehemaliger Soldaten und Milizionäre beschäftigen. Diese Mitarbeiter erwerben dabei Wissen, das sie oder unsere Wissenschaftler in Deutschland unter Forschungsgesichtspunkten wieder aufgreifen können.

In der Ukraine findet aktuell auch eine Vermischung von Zivilem und Militär statt - eine sehr unklare Situation.
Schetter: Absolut, ja. Wir können in der Ukraine erkennen, was wir gegenwärtig in der Kriegsführung und Gewaltaustragung sehr häufig finden: dass sich das Militärische als solches auflöst. Hier stehen sich nicht russische und ukrainische Soldaten gegenüber, sondern Milizionäre. Ähnliches geschieht seit Jahrzehnten an vielen Brennpunkten der Welt. Das Problematische daran ist, dass es schwieriger ist, Milizionäre nach einem Konflikt wieder in andere gesellschaftliche Strukturen überzuführen. Und dies wird umso schwieriger, je länger er dauert. Einerseits, weil Milizionäre bestimmte Gesellschaftsrollen ungern wieder aufgeben wollen, andererseits, weil die organisierte Gewalt ihren Lebensunterhalt sichert.

Was ist der Unterschied zu Soldaten einer Armee?
Schetter: Berufssoldaten gehen einen Karriereweg, werden von Beginn an geschult, was ihnen auch zivile Arbeitsmöglichkeiten eröffnet, und haben eine gewisse Vorstellung von der Arbeitsteilung zwischen Armee und Gesellschaft. Bei Milizionären ist das anders.

Hat nicht gerade die Bundeswehr immer mit dem Slogan "Bürger in Uniform" geworben?
Schetter: Ja. Eine große Errungenschaft der Bundeswehr ist es, dass sie mit der inneren Führung ein Instrument hat, das den hierarchischen Apparat immer wieder zu den demokratischen Vorstellungen der Bundesrepublik zurückführt. Und für jeden Soldaten ist ein Platz in der Gesellschaft vorgesehen. Viele Milizionäre wachsen dagegen in einer Parallelstruktur auf. In Afrika gibt es sehr viele Kindersoldaten, die mit zehn, zwölf Jahren in Milizen eintreten, darin sozialisiert werden und sehr klassische maskuline Werte annehmen. In Milizen ist die Verbindung von Gewaltverherrlichung und Maskulinität ein ganz großes Problem. Moderne Armeen versuchen, das einzuschränken.

Das Phänomen gab es auch schon hierzulande, nach dem Ersten Weltkrieg: Die Mitglieder der Freikorps waren Ex- Soldaten, die sich nicht mehr in die Gesellschaft eingegliedert haben.
Schetter: Mit derartigen Problemgruppen beschäftigen wir uns. Die gesellschaftlichen Kosten, die Milizionäre am Ende eines Krieges verursachen, sind enorm hoch. Die hat keiner auf der Rechnung. Mit klaren Armeen ist weitaus einfacher umzugehen als mit den mehr als 100 000 ehemaligen Bürgerkriegs-Milizionären im Südsudan, die ebenfalls aus der Staatskasse finanziert werden. Wie kann man ihnen eine Zukunft in ihrem eigenen Land geben? Das ist eine ganz große Herausforderung.

Hat das Land unter diesen Umständen überhaupt eine Chance auf eine friedliche Zukunft?
Schetter: In der Tat hemmt eine Situation, in der mehr als die Hälfte des Staatseinkommens in den Militär- und Sicherheitssektor fließt, die Entwicklung des Landes. Das gleiche Problem gibt es in Afghanistan oder in Mali. Wir versuchen, in einem nervenaufreibenden Klein-Klein, mit den Kollegen vor Ort Ideen zu entwickeln.

Wie sehen die aus?
Schetter: Die Vereinten Nationen haben ein Konzept, Milizionäre drei Monate einzukasernieren und Trainingsprogramme durchzuführen, bei denen sie lesen und schreiben lernen oder als Automechaniker geschult werden. Teilnehmer können Gelder beantragen, um ein Kleinunternehmen aufzubauen. Es gibt natürlich nicht ein Konzept, das man überall anwenden kann, das hängt von den lokalen Verhältnissen und den jeweiligen Traumata ab - mit all diesen Faktoren beschäftigen wir uns.

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