Kommunikationsgeschichte Die Geschichte der Telegrafie

Bonn · Ein Satz aus der Bibel (Numeri 23,23) musste es zur Eröffnung schon sein, als am 24. Mai 1844 zwischen Washington und Baltimore der neumodische Elektro-Telegraf des Erfinders Samuel Finley Morse in Betrieb ging - immerhin hatte er dem US-Kongress für den Bau stolze 30 000 Dollar abgeschwatzt.

What hath God wrought" - was hat Gott (Großes) bewirkt! Ein hübscher Satz, wenn die Menschheit ein neues Kapitel ihrer Fortschrittsgeschichte aufschlägt. Ein Satz aus der Bibel (Numeri 23,23) musste es zur Eröffnung schon sein, als am 24. Mai 1844 zwischen Washington und Baltimore der neumodische Elektro-Telegraf des Erfinders Samuel Finley Morse in Betrieb ging - immerhin hatte er dem US-Kongress für den Bau stolze 30 000 Dollar abgeschwatzt. Es war eine der ersten Verwendungsmöglichkeiten für die gerade erst richtig entdeckte Elektrizität, und es sollte die Kommunikationsgeschichte völlig verändern.

Samuel Finley Morse (1791-1872) war ursprünglich erfolgloser Maler und hatte seinen ersten Telegrafen 1837 aus den Überresten einer Staffelei gebaut. Dem Konstrukt fehlte es noch an zeitloser technischer Eleganz: Ein Uhrwerk zog einen Papierstreifen durch den Apparat, ein daran befestigter Stift zeichnete gleichmäßig einen Strich aufs laufende Papier. Kam ein Strom-Impuls, zuckte der Stift; ein Zacken entstand. Wer eine Nachricht senden wollte, musste die Wörter in einer Nummernliste suchen und die Nummern Ziffer für Ziffer durchgeben. Der Empfänger musste die entstehenden Zacken dann auf dem Papier zählen und die Bedeutung der Nummern nachschlagen.

Viel zu kompliziert, sagte sich alsbald Morses Assistent Alfred Vail (1807-1859) und erdachte ein Zeichensystem für Buchstaben statt Zahlen, passend zur Technik zusammengesetzt aus simplen Kurz-Lang-Impulsen. Einfache Kombinationen wählte er für häufige Buchstaben, schwierige für die seltenen. Die handliche Taste zum Senden der Impulse erfand Vail gleich mit; heute heißt sie "Morsetaste", und die von Vail erdachten Zeichen heißen "Morse-Alphabet" (denn Morse war zwar nicht ganz so gut im Erfinden wie Vail, aber viel besser im Sich-selbst-Vermarkten).

Aber auch Vails System hatte seine Macken: Da gab es nicht nur die vergleichsweise leicht zu unterscheidenden (kurzen) "Punkte" und (langen) "Striche", sondern auch noch einen längeren und einen ganz langen Strich; sogar die Pausen innerhalb der Zeichen hatten eine einfache und eine doppelte Variante. Immer noch viel zu kompliziert, sagte sich der Ingenieur Friedrich Clemens Gerke (1801-1888), als 1847 die Telegrafenlinie Hamburg-Cuxhaven in Betrieb ging. Er dachte sich eine eigene Variante des Vail-Alphabets aus - mit neuen Zeichen für Ä, Ö und Ü, mit einheitlich langen Strichen und einheitlich langen Pausen. Nochmals leicht verändert, wurde es 1852 zum Standard aller Telegrafiegesellschaften in Deutschland und Österreich. Dann gründete sich am 17. Mai 1865 (vor genau 150 Jahren also) in Paris der "Internationale Telegraphenverein" und schrieb das Vail-Gerke-Alphabet als Basis des Nachrichtenwesens fest.

Die Regeln könnten kaum simpler sein. Es gibt drei Elemente: kurzes Signal (Punkt), langes Signal (Strich), Pause. Ein Strich ist so lang wie drei Punkte; die Pause zwischen zwei Signalen ist so lang wie ein Punkt; die Pause zwischen zwei Buchstaben ist so lang wie ein Strich; die zwischen zwei Wörtern so lang wie sieben Punkte. Die geschriebene Form der Zeichen (siehe links oben auf dieser Seite) ist nur eine Krücke; viel wichtiger ist der jedem Zeichen eigene Klang. Er macht die Morsetelegrafie zu einer speziellen Form von Musik - ein einziger Ton, dafür ständig wechselnder Rhythmus. Die schnellsten Telegrafisten erreichen damit eine Sende- und Lesegeschwindigkeit von bis zu drei Buchstaben pro Sekunde.

Als "International Morse" machte der Standard von Paris bald rasche Karriere, wurde erweitert um Sonderzeichen für alle europäischen Sprachen, für arabische, griechische und russische Buchstaben, sogar für chinesische und japanische Schriftzeichen. Auch Alfred Vails Ursprungs-Alphabet blieb unter dem Namen "American Railroad" in den USA in Gebrauch - mit einem speziellen Empfangsgerät, dem "Ticker". Er hebt die Musik der Morsezeichen ins Metaphysische, indem er sie zum akustischen Negativabdruck macht: Die ankommenden Impulse lassen einen Hebel mit lautem Klick-Klack hin und her springen - ob ein Zeichen nun Pause, Punkt oder Strich bedeutet, hängt nicht vom Klick oder Klack ab, sondern vom kurzen, langen oder ganz langen Zeitraum dazwischen (wer hören will, wie sowas klingt: auf Youtube "Morse code american railroad slow" eingeben).

Friedrich Clemens Gerkes Zeichen indes tüüteten sich über Jahrzehnte in die Ohren der Menschheit ein. Nicht immer so martialisch wie Radio London zu Weltkriegszeiten mit seinem legendären Pausenzeichen Ta-ta-ta-Tamm (das ist Vails Buchstabe für V = "Victory"). Es geht auch harmloser: So erklangen von 1985 bis 1998 im Vorspann der Hauptnachrichten des ZDF die Morsezeichen für H-E-U-T-E. Oder in der Tagesschau: Jahrzehntelang setzte sie ans Ende der Wettervorhersage die Zeichen Q-A-M - im früheren Seefahrts-Signalbuch die Kurzform für "Wie wird das Wetter?". Die englische TV-Serie "Morse" enthielt die Zeichen für M-O-R-S-E im Abspann - es ist der Name des Titelhelden, eines kauzigen Inspektors, der gar nichts mit Telegrafie zu tun hat, sondern auf klassische Musik steht. Und ein bekannt-nerviger Piepton des früheren Handy-Herstellers Nokia bestand aus den Morsezeichen S-M-S.

Wie jedes Kapitel der Geschichte hat aber auch dieses seine hübsch erdachten Legenden. Etwa, dass der Hilferuf SOS "Save our souls" bedeuten solle: Rettet unsere Seelen. Stimmt nicht: die charakteristische Zeichenfolge (drei Punkte, drei Striche, wieder drei Punkte) wurde ausgesucht, weil auch Laien sie leicht erkennen. Dass SOS zum ersten Mal gesendet worden sei, als 1912 die Titanic sank, stimmt auch nicht: Der erste SOS-Ruf kam vom britischen Dampfer Slavonia, der 1909 vor den Azoren auf Grund lief (alle Passagiere wurden gerettet). Selbst der Satz von Gottes großem Wirken ist nur eine halbe Wahrheit. Denn natürlich gab es viele, viele nicht halb so schöne Testsätze zuvor - etwa "Der Feind ist nahe" (US-Präsident Martin van Buren, 1840) oder "214-36-2-58-112-04-01837" (das soll heißen "Gelungener Versuch mit Telegraph, 4. September 1837" und stammt von Morse selbst; sein System war halt doch etwas kompliziert ...).

Dennoch: Zu umständlich, dachten sich allerlei Leute anhörens der Piepser aus der Taste, die nur mit musikalischen Menschen als zwischengeschalteten Decodern funktionieren. Also erfanden sie erst das Telefon, dann den Sprechfunk, dann die E-Mail. Zwar hielt die Seefahrt noch lange an den Kurz-Lang-Signalen fest - der Sicherheit wegen, weil sie selbst durchs schlimmste Hintergrundrauschen noch hörbar sind. Doch seit 1. Februar 1999 gibt es GMDSS, das "Weltweite Notfall-Sicherheitssystem der Seefahrt", das auf Radar- und Satellitenortung basiert. Am 12. Juli 1999 gingen darum die letzten kommerziellen Morse-Sender Amerikas aus dem Äther. Ihre letzte Botschaft hieß: "What hath God wrought".

Ein trauriges Ende? Nicht doch! Das Bessere ist der Feind des Guten, bringt es aber nicht um. Die Telegrafie mit Punkten und Strichen ist so tot wie der Buchdruck oder die Schallplatte - nämlich quicklebendig. Noch immer üben Funkamateure das Senden mit der Morse-Taste (nicht mehr als Pflichtteil der Prüfung, sondern als Hobby). Noch immer gibt es Weltmeisterschaften der Schnelltelegrafie. Deutschland hat die Morse- (oder "Vail-Gerke"?)-Telegrafie 2014 ins "Bundesverzeichnis des immateriellen Kulturerbes" aufgenommen, die Vorstufe zur Unesco-Liste des immateriellen Weltkulturguts. Gut so. Die Punkte und Striche stehen für eine lange Geschichte, die wie Morsezeichen zusammengesetzt ist - aus vielen kleinen und großen Ideen vieler Menschen. Nicht nur Morses und Vails und Gerkes, sondern zum Beispiel auch der vielen Pioniere der Elektrotechnik. So ist das immer, wenn der Mensch seine Welt verändert: Ohne Zusammenarbeit geht nichts. Man könnte auch sagen: Was wurde da Großes gewirkt.

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