Fünf Jahre nach der ersten "Millionenfalle" Anatomie einer Affäre

Bonn · In diesem Monat jährte sich ein bislang einzigartiger Akt in der Geschichte der USA: Vor 40 Jahren, am 9. August 1974, trat ein Präsident während der laufenden Amtsperiode zurück - und kam damit dem Kongress zuvor, der ihn aus dem Amt gejagt hätte.

Dass die Öffentlichkeit von den Machenschaften des Lügners und Betrügers Richard Nixon erfuhr, verdankte sie der Hartnäckigkeit der beiden Reporter Carl Bernstein und Bob Woodward, die zwei Jahre lang unermüdlich recherchierten, ferner einer solidarischen Redaktion mit stabilem Rückgrat und einer Frau an der Spitze der "Washington Post", die sämtliche Anfeindungen, Beleidigungen und Verleumdungen aus dem Weißen Haus unbeirrbar an sich abprallen ließ: Verlegerin Katherine Graham, die Grande Dame des amerikanischen Journalismus.

In diesem Monat jährt sich auch in Bonn ein journalistisches Ereignis. Vor genau fünf Jahren veröffentlichte der General-Anzeiger eine Seite mit dem Titel "Die Millionenfalle" zum Desaster um das World Conference Center. Nichts liegt der Redaktion des General-Anzeigers ferner, als sich mit der Washington Post zu vergleichen. Aber der nüchterne Vergleich der Skandale lohnt sich.

Zwei blutjunge Lokalreporter, die sich mit dem mächtigsten Mann der Welt anlegen: Besser könnte ein Drehbuch für Hollywood nicht erfunden werden. Robert Redford und Dustin Hoffman liehen den beiden realen Protagonisten Gesicht und Stimme, "All the President's Men" kassierte 1977 vier Oscars. Der Bonner Skandal hingegen schaffte es - im Gegensatz zu Berliner Flughafen, Hamburger Elbphilharmonie oder Nürburgring - kaum zu nationaler Bekanntheit.

"Das Thema ist viel zu kompliziert für ein nationales Medium", urteilt "netzwerk recherche", die von Meisterrechercheur Hans Leyendecker ("Süddeutsche Zeitung", vormals "Der Spiegel") gegründete Journalistenvereinigung, in einer ihrer Fachpublikationen. Finanzexperten halten den Bonner Fall in der Tat für einen der komplexesten Insolvenzfälle Deutschlands.

Der Schauplatz des Watergate-Skandals: Washington. Die Schauplätze des WCCB-Skandals: Bonn, die US-Bundesstaaten Delaware, Hawaii und Virginia, Afghanistan, Australien, Irak, Israel, Libyen, die Niederlande, Südkorea, die Vereinigten Arabischen Emirate und Zypern. Teile der für die Baustelle am Rhein gedachten Zuwendungen von Bund, Land und Sparkasse versickerten rund um den Globus. Merke: Ist ein Skandal nur komplex und labyrinthartig genug, dann schafft das mediale Immunität. Selbst dem Bund der Steuerzahler war das WCCB zu kompliziert für sein Schwarzbuch.

Prozess nach Einbruch in Watergate-Gebäude

Die journalistische Aufklärung von Watergate und WCCB fand ihre Initialzündung in scheinbar langweiligen Gerichtsprozessen - in Washington dem gegen fünf Kriminelle, die ins Büro der Demokratischen Partei im Watergate-Gebäude eingebrochen waren (und sich erst später als CIA-Agenten und Vertraute des Republikaners Nixon entpuppten), in Bonn in einem scheinbar alltäglichen Zivilprozess im Sommer 2009. Aber eine GA-Reporterin war zur rechten Zeit am rechten Ort.

Anwälte stritten um die Eigentumsrechte an einem Grundstück. Die Mandanten passten so gar nicht ins Lokalkolorit: die zypriotisch-israelische Investmentfirma Arazim und ihr hawaiianisch-koreanisches Pendant Honua. Aber der Zankapfel war von höchster lokaler Relevanz.

Anteile nach Zypern verpfändet und dann noch mal nach Hawaii verkauft

Der Prozess deutete an, was sich wohl kein Bonner mit durchschnittlicher Fantasie je hätte ausmalen können: Bauherr Man-Ki Kim, der "Glücksfall für Bonn", hatte in seiner Geldnot 94 Prozent der WCCB-Anteile erst nach Zypern verpfändet und dann noch mal nach Hawaii verkauft.

Am 5. August 2009 entschieden die Bonner Richter: Das WCCB gehört Arazim. Honua hatte indes schon 32 Millionen Dollar an Kim gezahlt. Fast zeitgleich fragte sich ein Kollege der GA-Wirtschaftsredaktion: Ist Kims Firma "SMI Hyundai" wirklich eine Tochter des global agierenden koreanischen Automobilbauers und Fußball-WM-Sponsors - wie bei jeder Gelegenheit suggeriert wurde? Vier Klicks im Internet genügten, um das Gegenteil zu beweisen. Dies war die Initialzündung zur Gründung eines zehn Personen umfassenden GA-Rechercheteams.

Das Orakel der Watergate-Rechercheure hieß "Deep Throat". So nannten die beiden Reporter nach einem zeitgenössischen Pornofilm den namenlosen Informanten, der sich mit ihnen nächtens in einer Tiefgarage traf. "Folgt der Spur des Geldes", flüsterte Deep Throat. Den WCCB-Rechercheuren half das mysteriöse "Totenkuvert":

Dicker Briefumschlag tauchte im Verlagsgebäude auf

21. August 2009. Ein Freitag. Das Rechercheteam war mitten in der Arbeit, aber noch weit von einer Veröffentlichung entfernt. Gegen 18 Uhr tauchte ein dicker Briefumschlag im Verlagsgebäude auf. Der Absender: Name und korrekte Adresse eines längst Verstorbenen, wie die Kollegen noch am Abend ermittelten. "Sehr geehrte Damen und Herren, anbei erhalten Sie brisante/interessante Unterlagen bezüglich WCCB ..." So begann das kurze, unterschriftslose Begleitschreiben. Kopien von Dokumenten, die eine tiefere Erkenntnisebene spiegelten und das bis dahin noch unfertige Puzzle zu einem Gesamtbild vervollständigten.

Nicht nur der General-Anzeiger hatte sie erhalten. Sondern ein halbes Dutzend weiterer Medien, unter anderem "Welt" und "Bild", wie dem Begleitschreiben zu entnehmen war. Also wurde am Abend entschieden, die bisherigen Erkenntnisse des Rechercheteams schon am nächsten Morgen zu veröffentlichen. Als Seite 3. Titel: "Die Millionenfalle".

Bis kurz vor Druckbeginn gegen Mitternacht arbeitete der damalige Feuilleton-Chef daran, die rund 600 Zeilen des Ur-Manuskripts auf die Hälfte zu kürzen. Die Sorge um die mediale Konkurrenz erwies sich später als unbegründet: Wer nicht schon so tief im Thema steckte wie das GA-Rechercheteam, verstand die kryptischen Papiere im Totenkuvert nicht.

Deep Throat outete sich übrigens Jahrzehnte später als Vize-FBI-Direktor Mark Felt. Der wahre Absender des Totenkuverts ist bis heute unbekannt.

Washington, der Schauplatz des Watergate-Skandals, ist eine Hauptstadt - Bonn, Schauplatz des WCCB-Skandals, war einmal Hauptstadt. Bonn litt schwer unter dem Verlust. Der Schockstarre nach der knappen Berlin-Entscheidung des Deutschen Bundestages am 20. Juni 1991 folgte eine beeindruckende Aufbruchsstimmung. Jetzt erst recht! Bonn als Bundesstadt. Bonn als Wissenschaftsstadt. Bonn als UN-Stadt. In der allgemeinen Euphorie galten Ratsmitglieder mit eigenem Kopf als fortschrittsfeindliche Querulanten - in Sachen WCCB hieß es: "Wenn Sie Fragen stellen, gefährden Sie das Projekt."

Von dieser Stimmungslage konnte sich kein Bonner Medium freisprechen. Denn Lokaljournalismus beinhaltet immer auch eine gesunde Portion Lokalpatriotismus. Die Vereinten Nationen drängten auf eine Bonner Herberge für ihre internationalen Konferenzen, Bund und Land drängten mit, die städtische Suche nach einem Investor scheiterte reihenweise - da kam Kim als Retter in höchster Not, versprach 40 Millionen Euro Eigenkapital, ferner null Euro Betriebskosten-Risiko für die Stadt, und das trotz garantierter 90 Prozent Rabatt für die UN auf die künftige Saalmiete.

Heilsbringer aus Südkorea

Wenn die Oberbürgermeisterin, die Stadtverwaltung und ein eigens engagierter "unabhängiger" Berater den charismatischen Herrn aus Südkorea als Heilsbringer priesen - hätten Bonner Journalisten da schon zweifeln müssen? Auch der General-Anzeiger bejubelte Kim, etwa in seiner Porträtserie "Bonner Köpfe" im Januar 2008: Vom Christenmenschen war da die Rede, vom Familienmenschen, der Beethoven, Schnitzel und Spargel liebe und seinen Lebensmittelpunkt ganz an den Rhein verlegen wolle. Kim-Zitat in Kennedy-Manier: "Ich bin ein Bonner." Überschrift: "Ein unbezahlter Botschafter Bonns".

Es dauerte nicht lange, und der honorige Herr zahlte nicht einmal mehr seine Miete für die Privatwohnung, die ihm die städtische Vebowag besorgt hatte, obwohl er sich aus der mit öffentlichen Mitteln gespeisten Baukasse ein Monatsgehalt von zuweilen 40 000 Euro gönnte. Mit dem Kim-Porträt lag die Redaktion also nicht ganz richtig, wie sich noch herausstellen sollte - oder doch? Aus dem Text: "Ein Einsammler, der auf andere zugeht, sie an Bord holt." In der Tat: Das konnte er. Sechs der 468 Seiten Urteilsbegründung für Kim, seinen Rechtsanwalt Ha-S. C. und andere beschäftigen sich mit der systematischen Instrumentalisierung der Medien, auch des General-Anzeigers. Taktisches Ziel: Eine gefällige Berichterstattung sollte als Beruhigungsdroge für den Stadtrat wirken.

Als am Samstag, 22. August 2009, die erste "Millionenfalle" erschien, gab es abends in Bonn "Das schöne Fest" im ehemaligen Plenarsaal auf dem WCCB-Gelände - und dort, bei der gesellschaftlichen Folgeveranstaltung des nach Berlin verzogenen Bundespresseballs, kaum ein anderes Gesprächsthema. Lob für den GA kam anfänglich sogar aus dem Rathaus. Das änderte sich, als aus der einmaligen Veröffentlichung eine Serie wurde, die auch von dort, aus dem Rathaus, Unfassbares zu Tage förderte. Und allmählich den Schluss nahelegte, dass die Verwaltungsspitze (im Gegensatz zum Stadtrat) keineswegs zu den ewig Betrogenen zählte.

Informationslawine losgetreten

Die erste "Millionenfalle" trat eine regelrechte Informationslawine los: Empörte Bürger, Leser aus unterschiedlichsten Berufssparten boten ihre Hilfe an, lieferten Einblicke in Baurecht, Gesellschaftsrecht und Insolvenzrecht, schufen wertvolle Kontakte in alle Welt, machten sich bei der Interpretation von Dokumenten nützlich und wussten, wie man hektisch gelöschte Internet-Seiten wieder sichtbar machte. Bürgersinn im besten Sinne des Wortes.

Jeder politische Skandal hat Gewinner und Verlierer. Die Gewinner des WCCB-Skandals: Unstrittig Arazim Ltd., mutmaßlich Berater und Bauunternehmer, vielleicht auch heute noch Unbekannte, ferner ein stattliches Heer von Wirtschaftsprüfern und Anwälten - Entsorgungsfachkräfte für all den juristischen Sondermüll.

Die Verlierer der Entwicklung vom Null-Euro-Projekt zum Millionengrab: Handwerksbetriebe, die auf ihren Rechnungen sitzen blieben, der betrogene Stadtrat sowie alle Bonner Bürger, die nach Schätzungen etwa ein Vierteljahrhundert lang die Zeche zahlen werden. Erst im Januar soll es vor dem Bonner Landgericht in die nächste Runde der strafrechtlichen Aufarbeitung gehen, erstmals gegen städtische Bedienstete.

Parallel laufen in aller Stille schon Zivilprozesse. Der Skandal ist noch nicht zu Ende erzählt. Und es wird im Lauf der nächsten Monate überraschende Erkenntnisse geben. Darum wird der General-Anzeiger seine seit Mai 2013 ruhende Serie "Millionenfalle" wiederbeleben. Das sind wir den für den Skandal haftenden Bonner Bürgern schuldig.

Das WCCB im bundesweiten Vergleich

Das WCCB steht für den größten Bauskandal in Bonns Nachkriegsgeschichte, und er ist im Vergleich zu Elbphilharmonie, Nürburgring oder Berliner Flughafen bisher auch der kriminellste: Mehr als 50 Taten aus der Korruptionspalette stehen zur richterlichen Klärung an, verteilt auf zehn Angeklagte. Und schließlich verteilen sich die Kosten des Bonner Skandals (im günstigsten Fall 150 Millionen Euro) auf lediglich 315 000 Einwohner.

Das bedeutet: rund 476 Euro pro Kopf. Zum Vergleich: Die Kosten beim Berliner Flughafen explodierten von geplanten 1,7 auf (aktueller Stand) 5,4 Milliarden Euro. Der Bund ist mit 26 Prozent, die Stadt Berlin und das Land Brandenburg sind mit je 37 Prozent beteiligt. Da es rund 81,9 Millionen Bundesbürger gibt, haftet jeder mit nur 17,14 Euro (auch jeder Bonner Bürger). Jeder Hamburger haftet für die Elbphilharmonie mit 395 Euro, jeder Einwohner von Rheinland-Pfalz für den missratenen Freizeitpark am Nürburgring mit 64 Euro.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort