Zeitzeugen Marianne Zepp: "Dann fielen die Russen über uns her"

Bonn · Die 1935 geborene Marianne Zepp schildert bei ga-bonn.de ihre Kriegserlebnisse. Den Angriff auf Bonn am 18. Oktober 1944 erlebte die Bonnerin zusammen mit ihrer Familie im Bunker an der Karlstraße.

Ich bin 1935 geboren, und meine Kindheit war schon früh von Kriegserlebnissen geprägt. Wir wohnten damals auf der Endenicher Straße an der Viktoria-Brücke. Zur Karlschule ging ich täglich und durfte im Jahr 1942 schon mit sieben Jahren zur Erstkommunion gehen. Lesen und Schreiben konnte ich noch nicht, aber meine Eltern wollten „wie im Frieden" feiern. Die Luftangriffe fanden noch nicht so oft statt, doch in der Nacht zu Ostern mussten wir dann doch wieder in den Keller - ich sollte natürlich nüchtern sein, wegen des Empfangs der Hostie am nächsten Tag.

Es war im Keller ganz gemütlich für uns Kinder. Mein Bruder, damals drei Jahre alt, und ich kamen zum Weiterschlafen in die Feldbetten, meine Oma betete den Rosenkranz, und dann konnten wir wieder rauf in die Wohnung, weil die Sirenen Entwarnung gaben. So war ich „am schönsten Tag im Leben" ziemlich daneben.

Mein Vater war nicht eingezogen worden, weil er für eine Rüstungsfabrik (Großkochkessel) arbeitete, wo auch Zwangsarbeiter beschäftigt waren. Er war außerdem als Luftschutzwart tätig, weshalb er auch immer bei Luftangriffen als Letzter in den Keller kam.Mit der Zeit wurden die Luftangriffe immer stärker, wir wurden in der Schule auf das Schlimmste vorbereitet. Einmal liefen wir geschlossen bei Alarm zum Bunker an der Ellerstraße. Jedes Kind bekam eine Gasmaske und ein Paket mit Notverpflegung, Knäckebrot und Wasser. Gott sei Dank war es bei diesem Mal kein Angriff, wir gingen danach zurück in die Schule.

Meine Mutter, mein Bruder im Kinderwagen und ich gingen mehrmals in der Woche zur Kölnstraße, wo meine andere Oma wohnte. Unterwegs fielen mir immer die Buchstaben „LSR" an den Häusern auf, das war die Abkürzung für Luftschutzraum. Jeder konnte bei Luftalarm dort klingeln und in den Keller gehen. Im Keller bei fremden Leuten haben wir auch einmal gesessen und gebetet, dass unser Haus noch steht. Telefon gab es in Privathaushalten nicht und so wusste man nie, ob nach den Angriffen alles noch so war wie vorher.

Die Angriffe wurden immer heftiger, obwohl Bonn bis 1944 von Bomben ziemlich verschont geblieben war. Meine Eltern waren überwiegend der Meinung: Wir gehen nicht in den Bunker. Doch einmal war es fast zu spät. In der Mittagspause kam mein Vater immer zum Essen nach Hause. Es gab Voralarm, wir aßen ruhig weiter, dann ging alles ganz schnell. Ein Tiefflieger warf Brandbomben ab. Wir konnten uns gerade noch zwischen die Tür zum Wohnzimmer stellen, da schlug eine Stabbrandbombe in unser Fenster ein. Im Nu zersprang das Glas und die Gardinen standen in Flammen. Mein Vater löschte das Feuer mit mehreren Eimern Wasser während meine Mutter mit uns Kindern in den Keller rannte. Von da an hatte ich nur noch Angst, wenn die Sirenen heulten.

Als ich einmal auf der Brücke nach Hause ging, kam ein Tiefflieger, auch Jäger genannt, ganz niedrig über meinen Kopf, ich konnte den Piloten genau sehen, wie er mit einem Maschinengewehr auf mich zielte, ich warf mich flach auf den Boden. Er schoss daneben und ich nahm einen Granatsplitter mit nach Hause, er war noch ganz heiß. Meine Angst wurde immer größer, die Angriffe fanden immer öfter statt, ich hielt mir die Ohren zu und bekam Schreiattacken. In die Schule gingen wir nicht mehr, ebenso wenig wie zur Oma auf der Kölnstraße.

Am 18. Oktober legten britische Flugzeuge Bonn in Schutt und Asche. Mittlerweile saßen auch wir im Bunker an der Karlstraße. Mit vielen anderen hockten wir in düsteren Räumen und wussten nicht, wann wir wieder rauskommen würden. Irgendwann hatten wir nichts mehr zum Essen. Unser Haus stand noch, aber in der Altstadt brannte alles ab. Doch wie durch ein Wunder standen die Häuser auf der Kölnstraße noch. Nach dem Angriff konnten wir wieder nach Hause.

Jedoch wurden wir nach diesem fürchterlichen Angriff aufgefordert, Bonn mit Sammelzügen zu verlassen. Alte Leute und Mütter mit Kindern wurden evakuiert. Meine Mutter war schwanger mit meiner Schwester. Mein Vater brachte uns mit Gepäck zum Bahnhof. Er blieb in Bonn. Wir kamen nach Sachsen, in ein Dorf bei Wittenberg. Eine Familie nahm uns Flüchtlinge auf. Wir Kinder waren sehr erstaunt, dass es dort keinen Fliegeralarm gab. Es war wie im Frieden, wir konnten draußen spielen und gingen zur Schule.

Dann im Jahr 1945 bekamen wir einen Brief von meinem Vater, in dem er uns mitteilte, dass das Haus, in dem wir bis dahin in Bonn gewohnt hatten, bei einem Angriff getroffen worden war. Meine Oma und die anderen Bewohner hätten sich noch durch den Keller ins Nachbarhaus retten können. Alles war verbrannt. Wohin sollten wir nun gehen, wenn der Krieg zu Ende war? Im April des gleichen Jahres, ich war gerade zehn Jahre alt geworden, meine Mutter nun hochschwanger, spitzte sich die Lage zu. In Berlin waren schon die Alliierten, und am 27. April fielen die Russen ein. Wir konnten gerade noch in den Erdbunker auf dem Dorfplatz gehen, da setzten bei meiner Mutter die Wehen ein. Meine Tante, die auch bei uns war, betreute uns Kinder im Bunker, während meine Mutter, betreut von einer Gemeindeschwester, niederkam. Ob wir aus dem Bunker nochmal rauskommen würden oder ob er gesprengt würde, war die Frage.

Dann fielen die Russen über uns her. Mit Gewehren bewaffnet stürmten sie den Bunker. „Matka komm" riefen sie und holten die Frauen und Mädchen raus zum Vergewaltigen. Ich hatte Todesangst um meine Mutter, welche ja im Gemeindehaus in den Wehen lag. Aber irgendwann ließen uns die Russen raus aus dem Bunker, und meine Tante, mein Bruder und ich liefen rüber ins Haus. Dort lag meine Mutter im Keller, das Baby im Körbchen daneben.

Im Nu war der Keller voll mit Leuten aus den Häusern. Die Schwester zeigte auf das Kind in der Wiege, wenn russische Soldaten auf der Suche nach deutschen Soldaten die Treppe herunterpolterten. Sie waren ja auch nur Menschen und verschonten uns. So rettete meine kleine Schwester den Frauen, die sich um das Bett und darunter versteckten, das Leben. Irgendwann, als die Russen sich auf die Wohnungen verteilt hatten, konnten wir wieder in die Wohnung des Bürgermeisters ziehen, er war SA-Mann gewesen und hatte sich das Leben genommen.

Im kleinen Stadtwald hatte sich ein Soldat bis zu uns, wo die Gemeindeschwester meine Mutter versorgte, durchgeschlagen. Er bat um Hilfe. Sein blutender Stumpf, an dem mal eine Hand gewesen war, wurde notdürftig versorgt, dann wurde er weitergeschickt. Später im Jahr versorgten uns die Russen mit Essen und waren zu uns Kindern sehr nett. Erst als meine Schwester neun Monate alt war, war es uns möglich, wieder in Viehwaggons zusammengepfercht, nach Bonn zu fahren. Zehn Tage waren wir unterwegs, im Januar 1947, dem kältesten Winter.

Im Auffanglager Friedland wurden wir versorgt und waren glücklich, die ersten Amerikaner zu sehen. Als wir endlich in Köln ankamen und über die Behelfsbrücke auf Lastwagen verfrachtet waren, stimmten alle Leute das Lied „ich mööch ze Fooß no Kölle jonn" an.Wir sahen den Dom vor uns und waren glücklich, wieder zu Hause im Rheinland zu sein. Wohnungslos, verdreckt und mit angefrorenen Füßen kamen wir auf der Kölnstraße an. Dort waren meine Oma und einige Verwandte, welche auch ausgebombt waren, aber alle kamen irgendwie unter. Später spielten wir Kinder auf der Straße und in den Trümmern am Johanneskreuz. Wir waren die „Trümmerkinder". Wir hungerten und wurden in der Schule mit Schulspeisung versorgt.

Das Trauma, wenn Sirenen heulen und Flugzeuge über uns hinwegdonnern, habe ich noch sehr lange gehabt.

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