Bombenangriff 1944 Die Asche der Altstadt

BONN · Die schwere Bombardierung vor 70 Jahren bringt nicht nur mehr als 300 Männern, Frauen und Kindern den Tod. Sie löscht auch einen großen Teil des historischen Stadtkerns aus. Die Spuren der Zerstörung sind bis heute sichtbar.

Wissen wir noch, wie das war? Vor zehn Jahren? Damals, als Tag für Tag, Nacht für Nacht wild die Sirenen über die Stadt hinwegheulten, Bomben diese unsere geliebte Stadt zerschlugen, Bonn im Feuersturm zerbarst?" Mit diesen Sätzen leitet GA-Chefredakteur Edmund Els am 18. Oktober 1954 eine 24-seitige Sonderbeilage des General-Anzeigers zum Jahrestag des verheerenden Bombenangriffs auf Bonn ein. Ihr Titel: "Zehn Jahre danach".

Es ist nicht das Stilmittel der rhetorischen Frage, dessen sich der Chefredakteur seinerzeit bedient. Behutsam, Schritt für Schritt tastend nähert sich Els vielmehr der Beschreibung eines kollektiven Seelenzustands, den man einige Jahrzehnte später als Trauma bezeichnen wird. "Leid, Krankheit, Schmerz, Gram und Tod - wie gut, dass der milde Mantel der Zeit die Wunden deckt", fährt er fort und fragt: "Aber sind wir nicht manchmal auch vergesslich? So, als schämten wir uns unserer Narben?" So weit die Replik von 1954.

Lässt sich die Apokalypse vergessen? Einerseits führen die Reaktionen, welche die Redaktion des General-Anzeigers in dieser Woche auf die veröffentlichten Augenzeugenberichte erreichten, zu einem anderen Schluss. Zugleich aber findet auch 70 Jahre später längst nicht jeder Betroffene Worte dafür, was er am 18. Oktober 1944 im Flammenmeer zwischen Wachsbleiche, Arndt-straße, Kaiser- und Wilhelmsplatz erlebte.

Um kurz vor elf Uhr tauchen die 127 britischen Bomber und über 200 Begleitjäger über der Stadt auf, drehen erst noch eine Schleife hinüber zum Siebengebirge - und greifen dann an. Neben dem menschlichen Leid bewirken sie etwas, was die Residenz- und Universitätsstadt für immer verändern wird: den Untergang der Bonner Altstadt.

Die Bonner Altstadt. Wer denkt im Jahr 2014 bei diesem Stichwort nicht spontan an das quirlige Kneipen-, Szene- und Studentenviertel zwischen Landgericht und Frankenbad? Tatsächlich aber sind es findige Kneipenwirte, welche das Etikett "Altstadt" in den Siebzigerjahren als Ersatz für die (bis heute korrekte) Bezeichnung Innere Nordstadt "adoptieren". Der andere, der ernste Grund für den "Umzug" des Stadtteilnamens liegt im 18. Oktober 1944 begründet.

700 von 800 Wohngebäuden zerstört

Seit jenem Tag existieren allenfalls noch die Flächen, auf denen sich bis dahin die Altstadt befindet. Neunzig Prozent der Gebäude fallen in Trümmer, von knapp 800 Wohngebäuden werden rund 700 zerstört. Und ähnlich dem Opfer eines katastrophalen Unfalls, dessen Wiederherstellung der plastischen Chirurgie alle Kunst abverlangt, sind zwar auch auf den Grundstücken der Bonner Altstadt nach dem Krieg wieder Gebäude entstanden. Doch einem Zeitreisenden, der die alte Bekannte lange nicht sah, fiele ohne die markanten Punkte - Brücke, Universität, Kirchtürme, Rathaus - wohl das Wiedererkennen schwer.

Wer sich auf Spurensuche begibt, ist beiderseits der heutigen Kennedybrücke richtig. Er wird durch die Straßen rund um die Beethovenhalle streifen, vielleicht einen Bogen über den Wilhelmsplatz zur Kasernenstraße schlagen, im Schatten der Stiftskirche in Richtung Bertha-von-Suttner-Platz gehen und in einer der Fluchten unterhalb des Belderbergs den Rhein heraufschimmern sehen. Und wenn er neben der Treppe zur Unterführung zwischen Brüdergasse und Oper über die Schulter blickt, wird er sie sehen: die Altstadt.

Das Wandmosaik an der Fassade der Brüdergasse 31 zeigt neben dem alten Bonner Stadtwappen in Blau und Rot ein Geflecht aus Straßenzügen. Dargestellt ist das Viertel sowohl in der Zeit bis 1944 als auch nach der so genannten "Umlegung" von 1957, sprich weitgehend im heutigen Zustand. Im groben Raster wirken die Pläne fast deckungsgleich. Auf den zweiten Blick aber fällt auf: Hier sind Gässchen verschwunden, dort sind neue Straßen entstanden.

Bis '44 zieht sich die Altstadt in einem Halbkreis um den Brückenkopf, der Radius reicht etwa bis zur Ersten Fährgasse auf der Südseite und zum Rosental im Norden. Und mittendrin: Ein Sammelsurium enger, verwinkelter Gassen, die sich zwischen windschiefen Häusern hindurchzuschlängeln scheinen.

l Rheinviertel: Südlich der Rheinbrücke, bis zum Alten Zoll reichend, befinden sich in den 40er Jahren die ältesten Wohnviertel der Stadt in Rheinnähe. Ursprünglich von Fischern und Zöllnern bewohnt, lebt hier weiterhin die einfache Bonner Bevölkerung. Beispiel Rheingasse, wo im Haus mit der Nummer sieben einst die Familie Beethoven mit dem jungen Ludwig wohnte: Im Jahr 1941, so verrät das Bonner Adressbuch, betreibt die Familie Schmitz hier ein "Fremdenheim", nebenan leben der Invalide Franz Reitz und die Witwe Kratz, die sich offenbar als Näherin über Wasser hält.

Arbeiter, Gastwirte, Handwerker, dieses Milieu belebt all die Gässchen im Fischerviertel, wie es auch genannt wird. Die meisten der gedrängt aneinander geschmiegten Gebäude sind bis unters Dach bewohnt. Mit Vater Rhein pflegt man einen pragmatischen Umgang und nutzt ihn als Transportweg oder als Müllkippe. Im Sommer spielt sich das Leben im Freien ab, auf der Mühlengasse oder der Kallengasse wird gearbeitet, gespielt oder ein Klaaf gehalten.

Dann plötzlich, am Mittag jenes 18. Oktober 1944, steht hier kein Stein mehr auf dem anderen. Das stattliche Hotel Rheineck am Fuße der Rheingasse ist Geschichte, ebenso das städtische Gymnasium, an dessen Stelle viele Jahre später ein Teppichhändler aus Persien und die "Therme" den Betrieb aufnehmen. Nach dem Krieg wird der Schutt des Rheinviertels kurzerhand aufgeschüttet, daher rührt der Höhenunterschied zum Belderberg.

Auf den Trümmern der Mühlengasse entsteht 1965 das Große Haus der Oper. "Am Boeselagerhof" heißt seitdem die frühere Kallengasse, als Erinnerung an das zerstörte Palais. Wie ein ferner Gruß bleiben nach dem Krieg Rheingasse, Giergasse und Voigtsgasse - Standort der alten Gertrudiskapelle - erhalten, wenngleich mit nahezu vollständig "ausgewechselter" Bebauung. Entlang der Konviktstraße trifft es am 18. Oktober der Länge nach das Hauptgebäude der Universität - die somit just an ihrem Gründungstag bis auf die Umfassungsmauern zerstört wird.

Südlich des Alten Zolls zieht sich am Ufer ein Band der Zerstörung entlang: Königshof, Lese, Beethoven-Gymnasium, Ernst-Moritz-Arndt-Haus und mehrere private Villen, bis hin zur Weberstraße, Lenné- und Kaiserstraße werden schwer zerstört. Vor dem Feuer bewahrt bleibt - unter selbstlosem Einsatz von Kastellan Heinrich Hasselbach und Franz Rademacher vom Rheinischen Landesmuseum - Beethovens Geburtshaus an der Bonngasse.

Brückenstraße/Kreuzstraße

Von der Rheinbrücke führt im Oktober 1944 die Brückenstraße nach Bonn hinein, die jenseits des Belderbergs bis zum "Adolf-Hitler-Platz" (dem Friedensplatz) führt. Bis zur Wenzelgasse heißt sie Brückenstraße, dahinter bis zur Bonngasse Gudenaugasse, und im hinteren Abschnitt trägt sie bereits ihren späteren Namen Friedrichstraße. Die Vorzeigemeile von 2014 ist 1944 die zentrale Ost-West-Verbindung von der Brücke in Richtung Friedensplatz.

Ein anderer Weg von der Brücke in die Stadt führt von der Brückenstraße am Belderberg halbrechts auf die Kreuzstraße. Die trifft an jenem Punkt, an dem sich 70 Jahre später die große Straßenbahnhaltestelle "Bertha-von-Suttner-Platz" befindet, auf die Wenzelgasse, welche seinerzeit bis zur Sandkaule reicht. Sandkaule und Kölnstraße sind lediglich über die schmale Kesselgasse - nicht zu verwechseln mit der späteren Kesselgasse (Waffen Deckers) - miteinander verbunden. Die alte Kesselgasse verläuft dort, wo sich hernach die nördlichen Bebauung des Suttnerplatzes ausbreiten wird. Salopp gesagt: Von der Ecke Belderberg bis zu "McDonalds".

Jenseits der Kölnstraße (in Linie der späteren Oxfordstraße) führt die Kesselgasse als Maargasse weiter, um jenseits der Kasernenstraße vor dem Gerichtsgebäude an der Wilhelmstraße zu enden. Die Wilhelmstraße bildet dort einen durchgehenden Riegel, wie 2014 noch an dem "Reststück" entlang der Friedensplatzpassage (Notariat Baltzer) zu erahnen ist.

Wo 2014 Bertha-von-Suttner-Platz und Oxfordstraße mit ihren zweckmäßigen wie schmucklosen Gebäuderiesen eine breite Schneise schlagen, befindet sich bis zum Oktober 1944 enge Wohnbebauung, eingefasst nur von Friedrichstraße und Maargasse. Deren Trümmer werden nach 1945 beiseite geschoben und verbliebene Reste abgerissen. Mit etwas spitzer Zunge ließe sich somit auch sagen: Bei Suttnerplatz und Oxfordstraße handelt es sich um die offenen Wunden des Krieges, sichtbar bis ins 70. Jahr danach.

Erst 1955 beginnt die Stadt mit dem Durchbruch der Maargasse in Richtung der heutigen Thomas-Mann-Straße. Dabei wird in die Wilhelmstraße eine Lücke gerissen, indem vier Häuser neben dem Gericht abgerissen werden. Auf diese Weise schafft man Platz für den Verkehr - die Straßenbahn etwa, für die dort die Haltestelle "Landgericht" angelegt wird.

Die Maargasse, von Trümmerresten befreit und zur Brache ausgewalzt, wird 1971 in Oxfordstraße umbenannt. Als Reminiszenz an die Städtepartnerschaft, welche die beiden Universitätsstädte verbindet. Gleichsam ein fast zufällig wirkendes Zeichen der Versöhnung, nachdem die Jugend beider Länder einander Kulturerbe und Barockstädte ausradiert hatte.

Die Kuhl

Nördlich der Rheinbrücke liegt zwischen Josef- und Kasernenstraße die als "Kuhl" bezeichnete einstige Senke, nach der die Stiftskirche vom Volksmund auf den Namen "Kuhle Dom" getauft wurde. Hier leben 1944 die Arbeiter der Fabriken im Bonner Norden. Die Kinder besuchen die Stiftsschule, neben der sich die Gebäude der Universitätsklinik befinden. Während in der Schule auch 70 Jahre später Lesen und Schreiben gelernt wird, sind die Schäden an den Kliniken zu groß.

Ihre Reste werden aufgeschüttet. Auf dem Trümmerhügel weihen Bundespräsident und Bundeskanzler 1959 die neue Beethovenhalle ein. Schwer getroffen werden auch die Rheinischen Kliniken und das Johannes-Hospital. Längst durch deutsche Hand zerstört ist zu diesem Zeitpunkt die Synagoge an der damaligen Tempelstraße neben der Brücke, an deren Stelle sich sieben Jahrzehnte später das Hilton-Hotel erhebt.

Authentische Produkte des Wiederaufbaus der 50er Jahre finden sich in Gestalt der neu geschaffenen Straßen Am Gymnicher Hof und Am Nesselroder Hof. Am dortigen Spielplatz schafft man später übrigens eine der durchweg bescheidenen Erinnerungsstätten mit Bezug auf den Angriff. Sehens- und hörenswerte Beiträge zur tiefgehenden Geschichte von Kuhl und Rheinviertel mit unzähligen Anekdoten ihrer Alteingesessenen hat übrigens der Bonner Filmemacher Georg Divossen in seinen Filmen zusammengetragen. Schmunzeln ist garantiert.

Nicht so bei der Lektüre von Helmut Vogts Buch "Bonn im Bombenkrieg" aus dem Jahr 1989. Wer es aufschlägt, dem lächeln ganz vorn zwei glückliche Bonner Kinder von einer Schwarzweißfotografie entgegen, herausgeputzt und unschwer als Geschwister zu erkennen. Das Bild muss kurz vor den Luftschlägen entstanden sein. Helene Rübenach ist sechs, ihr Bruder Heinrich fünf Jahre alt, als sie am 21. Dezember 1944 von einer Luftmine in den Tod gerissen werden.

Unter den insgesamt 1564 hiesigen zivilen Opfern des Luftkriegs sind Dutzende Bonner Kinder. Wem der Gedanke daran das Weiterblättern nicht unmöglich macht, den mag bei der Lektüre eine bittere Erfahrung einholen: Dass Bilder des Grauens, wie man sie gemeinhin mit Dresden, Hamburg und aktuell womöglich auch mit Kobane verbindet, auch in der Geschichte Bonns ihren düsteren Platz haben.

Der "totale Krieg", diabolisch ausgerufen von dem ehemaligen Bonner Studenten Joseph Goebbels und beantwortet mit der flächendeckenden Zerstörung deutscher Städte, er wütete in Gestalt von Lancaster-Maschinen und ihrer tödlichen Fracht auch hier - in einer Stadt ohne nennenswerte militärische Bedeutung. Und ohne Chance, sich vor der Katastrophe zu retten. "Bonn wurde übungshalber zerstört", schreibt der Historiker Jörg Friedrich in seinem Buch "Der Brand" und meint den Test einer neuen Zieltechnik durch die Engländer.

Dass die Stadt noch halbwegs intakt ist, kommt der Royal Air Force entgegen, denn das veranschaulicht später den Versuchserfolg besser. Jörg Friedrich: "Bonns Glück war sein Unglück". Auch soll bekanntlich die Moral der Bevölkerung gebrochen werden. Als im März schließlich die Amerikaner Bonn erreichen, haben sie den Anblick der historischen Altstadt verpasst. Es fehlten kaum fünf Monate.

Zurück zum Editorial von Edmund Els. "Seht Euch die Bilder an! Da kamen wir her damals, und hier stehen wir jetzt", schreibt er 1954. Doch selbst wenn sieben Jahrzehnte vergehen, macht dies den Überlebenden von einst die Rückschau nicht zwingend leichter, wie aktuelle Wortmeldungen 2014 zeigen: "Meine Schulfreundinnen und ich haben uns durch dieses traumatische Erlebnis ins Verdrängen und Vergessen geflüchtet", schreibt Erika Schumacher (geb.Backhausen) aus Königswinter, "Ich erinnere mich noch heute, als wäre es gestern gewesen", sagt Louise Kurig-Servais aus Meckenheim.

Und die Bonnerin Helga Große Drieling gibt zu bedenken: "Es bleibt nicht mehr viel Zeit, um unseren Kindern und Enkeln zu erzählen, wie es damals war". Auch die Straßen und Lücken werden weiter erzählen. Als Zeugen der untergegangenen Altstadt.

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