Ein Bauernopfer für die Nazis Stellvertretend hingerichtet

BONN · 70 Jahre lang versuchte Leo Weber zu verstehen, warum sein Vater unter den Nazis hingerichtet wurde. 50 Jahre lang glaubte er, sein Vater sei ein Schwerverbrecher gewesen. Und dann war alles doch ganz anders.

 Winfried Ponsens (rechts) und sein Cousin Leo Weber halten die mühevoll recherchierte Akte von Gabriel Weber in Händen.

Winfried Ponsens (rechts) und sein Cousin Leo Weber halten die mühevoll recherchierte Akte von Gabriel Weber in Händen.

Foto: Horst Müller

Leo Weber sitzt in seinem Endenicher Wohnzimmer und erzählt stockend von seinem Horror. "Ich bin letztlich nur auf Granit gestoßen, in der Familie und bei den Behörden." Winfried Ponsens, der jüngere Cousin, hört zu.

"Keiner wollte sich äußern", sagt Leo Weber. Der 87-Jährige hat über sieben Jahrzehnte lang versucht zu verstehen, warum sein Vater Gabriel Weber am 20. August 1942 unter der Guillotine im Kölner Klingelpütz sterben musste.

Leo Weber selbst war damals 14 und hatte den angesehenen Beamten der Stadt Brühl nur als liebenden Vater erlebt. Und plötzlich wurde dieser Held glücklicher Kindertage als Schwerverbrecher verurteilt und als "Volksschädling" hingerichtet - wohl wegen eines Kriegswirtschaftsverbrechens, wie der Sohn später immerhin herausbekam.

"Da begann die schlimmste Zeit meines Lebens", schildert der Endenicher die Jahre, als auch die Mutter arrestiert werden sollte, vor Gram starb und die vier Kinder als Waisen zurückließ.

1942 zerbrach seine Welt

Im Grunde genommen hat sich Leo, das dritte der Weber-Kinder, diese "schlimmste Zeit" bis heute weiter aufgebürdet. Damals schickten die Nazis den Sohn des stadtbekannten "Volksschädlings", diesen ebenfalls "politisch Unzuverlässigen", als Kanonenfutter an die Ostfront. Schwerbehindert kehrte Leo Weber zurück und fragt sich bis heute, warum seine Welt 1942 zerbrach.

Dabei war der Vater doch weder Verbrecher noch Widerstandskämpfer noch einer der vom Terrorregime verfolgten Minderheiten zugehörig, sondern einfach nur ein ganz "normaler" Bürger gewesen.

Wofür verdiente man 1942 in einer kleinen deutschen Stadt die Todesstrafe? Warum schwiegen dazu alle so lange? Leo Weber setzte Himmel und Hölle in Bewegung, schrieb zahllose Stellen an, um Licht ins Dunkel zu bekommen.

Und nun hat ihm Cousin Winfried Ponsens nach ebenfalls detektivischer Kleinarbeit endlich das Todesurteil gegen den Vater besorgen können. Und der 87-Jährige sagt hier im Wohnzimmer, das müsse er erst einmal weglegen. Er könne jetzt nicht. Er brauche Zeit - und Kraft.

Vom Nazi-Sondergericht zum Tode verurteilt

Winfried Ponsens geht behutsam auf den traumatisierten Cousin ein. Als Kind hatte er selbst einmal verstört neben der weinenden Mutter an einer kahlen Mauer des Bonner Nordfriedhofs gestanden und etwas vom Familiengeheimnis aufgeschnappt.

Hier sollte der mysteriöse Onkel, der wie 126 andere Opfer von den Kölner Nazi-Sondergerichten zum Tode verurteilt worden war, verscharrt worden sein. Leo Weber hatte den Vater in den 1950er Jahren von dort aus in ein Grab umbetten lassen wollen. Und dann waren an der Mauer keine Gebeine Webers gefunden worden.

Alpträume hatten den Sohn heimgesucht, als er sich Stück für Stück Papiere erkämpfte, die besagten, dass die Leiche damals vom Klingelpütz aus in der Bonner Anatomie gelandet war. Hatten die Nazischergen den Leichnam auch noch zu Forschungen missbraucht?

Dem Toten die Würde zurückgeben

Erst kürzlich hat Ponsens endlich Dokumente beschaffen können, die beweisen: Die Familie hatte den Toten doch noch aus der Anatomie herausbekommen und andernorts bestattet. "Das hat Leo tief berührt", sagt Ponsens. Warum engagiert Ponsens sich eigentlich so in der Sache, dass er nun mit dem Vertrauen seines Cousins eine Homepage über die akribische Suche der beiden ins Netz gestellt hat?

"Ich will diesem fernen Onkel, mein Cousin Leo will seinem Vater dessen Geschichte schenken", antwortet Ponsens. Und das in der vielleicht naiven und paradoxen Hoffnung, diesem Gabriel Weber im Erzählen seines Todes ein Stückchen Leben zurückzugeben. "Mindestens aber seine Würde. Und wir wollen, dass das, was geschehen ist, sich niemals wiederholen darf."

Aber warum war ein angesehener Bürger wie Gabriel Weber unter der Guillotine gelandet? Bis sie die Zusammenhänge begriffen hätten, habe es viel Recherchearbeit gebraucht, weil in der Stadt Brühl keine Personalakte mehr zu finden sei, sagt Ponsens. "Brühl kennt Gabriel Weber seit 1942 nicht mehr."

Es gibt immer ein Bauernopfer, das sterben muss

Der Unrechtsstaat habe bis heute ganze Arbeit geleistet. Der damals 39-jährige kommissarischer Leiter des Wirtschaftsamtes Weber sei, so stellte es sich heraus, als Bauernopfer ermordet worden, weil er im Auftrag seines Vorgesetzten Wilhelm Pott Lebensmittelkarten hinterzogen habe: zum Vorteil bestimmter, den Nazis nahestehender Brühler Geschäfte und in geringstem Umfang auch für sich, so Ponsens. Und Gabriel Webers fester Glaube, die Vorgesetzten würden die Sachlage schon klären, habe schließlich getrogen.

Der damalige Kölner Landgerichtspräsident Walter Müller habe bei Sondergerichtsprozessen die Devise ausgegeben: "Die Rübe muss herunter, der Gauleiter erwartet es." Und Webers ebenfalls berüchtigt zynischer Richter Karl Eich habe den harmlosen Beamten, ohne mit der Wimper zu zucken, unters Fallbeil geschickt.

Diesen Richter, der bis zum Lebensende eine "fette Pension" genießen konnte, habe er in den 1950er Jahren einmal aufgesucht, erzählt Leo Weber. Auf die Möglichkeit einer Rehabilitation für seinen Vater habe er ihn direkt angesprochen. Eich habe nur erwidert: "Was damals Recht war, kann heute kein Unrecht sein." Leo Weber ist immer noch erschüttert. Dieser Mann sei wohl sein Leben lang ein unverbesserlicher Nazi geblieben.

Entschädigung für das Stillschweigen

Dabei war Eichs Urteil schon 1947 stillschweigend von der Kölner Staatsanwaltschaft revidiert worden. Das wurde den Nachkommen aber erst 1994 von der Kölner Staatsanwaltschaft in einem förmlichen Schreiben mitgeteilt. Gut fünf Jahrzehnte lang war Leo Weber mit dem Kainsmal herumgelaufen, einen Schwerverbrecher als Vater gehabt zu haben.

2002 gab es dann eine Entschädigung der Weber-Kinder für das erlittene staatliche Unrecht nach der sogenannten Härtefallregelung. Leo Weber bekam 2500 Euro.

Und die anderen, die seinen Vater verrieten und denunzierten? Alle seien nach dem Krieg weich gefallen, sagt Ponsens. Außer im Nürnberger Juristenprozess sei kein einziger Jurist von einem deutschen Gericht nach dem Krieg ernsthaft belangt worden. Die widerrechtlichen Tötungen blieben ungesühnt - was ja letztlich die zweite Schuld der Deutschen darstellte. Ponsens sieht den Cousin an. Leo Weber habe so sehr nach Antworten gesucht, "dass er ein eigenes Leben kaum spüren und führen konnte".

Den Abschiedsbrief des Vaters aus der Haft habe der Sohn schließlich Anfang 2014 verbrannt. In der verzweifelten Hoffnung, zumindest im hohen Alter den Zwang zu verlieren: diesen einen Brief, das letzte Lebenszeichen seines Vaters, täglich lesen und dabei weinen zu müssen.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort