Die Geschichte zweier Bonner Schülerinnen Von Bonn aus in den "Heiligen Krieg"

Bonn · Janina und Laura waren zusammen in Bonn auf der Schule. Janina wird Journalistin, Laura konvertiert zum Islam und zieht in den "Heiligen Krieg". Janina Findeisen macht ihre Schulfreundin in Syrien ausfindig - und wird hochschwanger dort von Terroristen entführt. Ihre Geschichte.

Sie sind fünf Jahre alt, als die Mauer fällt. Sie lernen sich in der ersten Klasse kennen. Liebe auf den ersten Blick. Nach dem Unterricht besuchen Laura (Name geändert) und Janina denselben Hort in der Bonner Innenstadt - und nach der Grundschule wechseln sie beide aufs Clara-Schumann-Gymnasium. Eine heile Welt inmitten der heilen Welt der Bonner Südstadt. An Herbstnachmittagen sammeln sie gemeinsam Kastanien, um sie in der Haribo-Fabrik in Kessenich gegen Süßigkeiten einzutauschen. Laura ist eine fleißige Schülerin, gewissenhaft, akkurat.

"Der Stein", ein grauer Waschbetonklotz am Bonner Busbahnhof, wird für Laura und Janina bald der Mittelpunkt der Welt. "Der Stein war der soziale Hotspot unserer Jugend", erinnert sich Janina Findeisen. "Wir waren zwei Bonner Mädchen, die auf ihr Leben warteten. Unsere Strategie war denkbar einfach: copy and paste. Wir haben uns fast alles von den älteren und cooleren Mädchen abgeschaut."

Auch Mounir kommt oft zum Stein. Er hat dunkelbraune, fast schwarze Augen. "Eine solche Arroganz wie Mounir hatten nur wenige Jungs in diesem Alter", erinnert sich Janina Findeisen. Parfum, penibel geputzte Schuhe, sorgfältig gestyltes Haar, das volle Programm. Manchmal ist sein schüchterner jüngerer Bruder Yassin dabei. Die Eltern stammen aus Marokko, strebsame Leute, ihre Söhne wurden in Bonn geboren, wachsen in Kessenich auf. Im katholischen Kindergarten sind die Chouka-Brüder die einzigen Muslime, ebenso in der katholischen Grundschule. Anschließend wechseln sie aufs anspruchsvolle Beethoven-Gymnasium, machen dort ihr Abitur und leisten als deutsche Staatsangehörige ihren Wehrdienst bei der Bundeswehr. Smart. Intelligent. Solchen Jungs steht die Welt offen.

Damals, am "Stein", ahnt niemand, vermutlich auch Mounir und Yassin nicht, welche Karriere die Chouka-Brüder wenige Jahre später einschlagen werden: Chefpropagandisten der "Islamischen Bewegung Usbekistans". Die Chouka-Brüder schaffen es in die Tagesschau und in die Terrordatenbanken der internationalen Geheimdienste. In ihren Propagandavideos ist der Dschihad ein aufregendes Abenteuer. Die Chouka-Brüder sind die ersten deutschen Pop-Stars der internationalen Dschihadisten-Szene. Und Bonn, die einstige Bundeshauptstadt, ist zu diesem Zeitpunkt längst die Dschihadisten-Hauptstadt Deutschlands.

Ausbildung bei der Kreisverwaltung in Siegburg

Nach dem Abitur trennen sich die Wege der unzertrennlichen Freundinnen. Janina geht nach Berlin, um dort Ethnologie und Vergleichende Religionswissenschaften zu studieren. Während ihres Studiums und anschließend als Journalistin beim Rechercheverbund NDR, WDR, SZ beschäftigt sie sich intensiv mit dem Dschihad. Sie macht zum Beispiel die Erfahrung: In Deutschland angeworbene Dschihadisten stammen in der Regel keineswegs aus streng religiösen Familien.

Laura hingegen macht eine Ausbildung bei der Kreisverwaltung in Siegburg. Nach einem Tunesien-Urlaub konvertiert die 20-Jährige zum Islam. Zunächst ist sie eine liberale Konvertitin: ohne Kopftuch, ohne erkennbaren Missionierungsdrang und ohne Absicht, ihre berufliche Zukunft als Beamtin im Straßenverkehrsamt des Rhein-Sieg-Kreises aufs Spiel zu setzen.

Dann lernt Laura den gebürtigen Afghanen Djavad kennen. Dessen älterer Bruder arbeitet als DJ im angesagten Carpe Noctem an der Bonner Wesselstraße. Laura und Djavad werden ein Paar, heiraten und bekommen ein Kind. Djavad sucht eine Ausbildungsstelle, mit Lauras Hilfe schreibt er 200 Bewerbungen - und kassiert 200 Absagen.

Anschluss, Orientierung und Wertschätzung findet er schließlich in fundamentalistischen Kreisen. Djavad ist leichte Beute für die Talentscouts in den Bonner Moscheen, die nach frustrierten und perspektivlosen Männern Ausschau halten, um sie zu kampfbereiten Dschihadisten umzupolen - allzeit bereit, als Märtyrer zu sterben. Laura trägt nun Kopftuch und verhüllt ihren Körper.

Auch Mounir verändert sich. Er trägt nun Bart und ein langes Gewand. Er steht in Kontakt mit dem salafistischen Bonner Prediger und ehemaligen Profiboxer Pierre Vogel. Bald begleitet Yassin seinen älteren Bruder in die Moschee. Abu Ubayda und andere Prediger knüpfen in Bonn ein Netz, in dem sich viele Jugendliche verfangen. Die Chouka-Brüder reisen von Bonn in den Jemen, von dort nach Waziristan, eine Bergregion im nordwestlichen Pakistan an der Grenze zu Afghanistan. Yassin stirbt bei dem Versuch, nach Syrien zu reisen, bei einem Schusswechsel mit iranischen Soldaten, sein Bruder Mounir sitzt seither im Iran im Gefängnis.

Ein Abschiedsbrief im Briefkasten

Im Frühjahr 2009 versucht Janina Findeisen vergebens, ihre Schulfreundin Laura auf dem Handy zu erreichen. Sie ruft schließlich Lauras Mutter an. Die erzählt von Lauras Abschiedsbrief, den sie in ihrem Briefkasten vorgefunden hat.

Laura ist 25, verbeamtet, verheiratet, hat eine einjährige Tochter namens Leila und eine hübsche Dreizimmerwohnung in Beuel, als sie und ihr Mann Djavad im April 2009 untertauchen und Mounir und Yassin nach Waziristan folgen.

Die Journalistin Janina Findeisen begibt sich auf Lauras virtuelle Spuren im Netz - und wird fündig. "Ich wollte verstehen, was mit Laura passiert war. Ich beobachtete die Gruppe, der sie sich angeschlossen hatte: die Islamische Bewegung Usbekistan, kurz IBU, eine zentralasiatische Terrorgruppe, die mit den Taliban verbündet ist und in Waziristan und in Afghanistan operiert. Ich wollte wiedergutmachen, was ich vor ihrem Untertauchen versäumte. Hätte ich das geahnt, dann hätte ich alles getan, um sie daran zu hindern."

Ein halbes Jahr später, am 24. November 2009, kursiert im Netz ein Video. Djavad lächelt in die Kamera. Er trägt einen Granatwerfer und sagt, dass er bereit sei, für Allah in den Tod zu gehen. Er zeigt mit dem Finger gen Himmel, während er eine Koransure rezitiert. Schnitt. Deutschsprachige Mudschahedin berichten vor der Kamera, dass Djavad im Kampf mit pakistanischen Soldaten getötet wurde. Sie loben seine Tapferkeit. Schnitt. Eine Frau in einer Burka. Seine Witwe. Sie sagt auf Deutsch: "Ein großer Unterschied besteht zwischen uns Mudschahedin und diesen Feiglingen. Ich und jede andere Witwe unserer Gemeinschaft sind voller Stolz und Glück, dass Allah unsere Männer auserwählt hat und uns durch diese Prüfung ausgezeichnet hat."

Janina Findeisen erkennt Lauras Stimme auf Anhieb: "Sie rief zum Dschihad gegen uns auf. Sie hat sich verabschiedet von jedem kleinsten gemeinsamen Nenner."

Seite 2: Erste Frau in einem deutschsprachigen Propagandavideo

Die Bonnerin ist die erste Frau in einem deutschsprachigen Propagandavideo der Dschihadisten-Szene. Und dann sagt die Burka-Trägerin im Video: "Die Ehre, die Würde und die Freiheit der Frau werdet ihr nirgendwo so zu spüren bekommen wie bei uns."

Vor Janina Findeisen türmen sich Fragen über Fragen auf. Was hat ihre Freundin seit Kindertagen zur radikalsten Lebensform des Islam geführt? Warum verschreiben sich junge Menschen ihrer Generation einer anderen Weltordnung und fühlen sich von unserem Wertesystem abgestoßen? Ist unsere grenzenlose Freiheit vielleicht doch nicht das größte erstrebenswerte Gut?

"Die Verbindlichkeit von Gruppen, Freundschaften und Familien ist ein wichtiger Faktor", glaubt die Journalistin. "Simple Erklärungen in einer komplexen Welt und eine klare Einteilung in haram und halal, verboten und erlaubt. Das ist eine Protestideologie. Die Vollverschleierung als Protest gegen die allgegenwärtige Vermarktung des weiblichen Körpers. In den 60er Jahren trugen die Mädchen aus Protest gegen die prüde Gesellschaft Miniröcke. Der Dschihad ist ein Hybrid aus Auflehnung und Abenteuer. Der Flirt mit der Gewalt ist attraktiv für eine junge Generation, die nach Anerkennung, medialer Präsenz und Aktion dürstet. Eine vom Internet beflügelte Popkultur. Es geht nicht mehr um eine theologisch begründete Ideologie, sondern um eine Fragmentierung und Ästhetisierung der Ideologie, wie man an den HD-Videos in Computerspiel-Ästhetik und der Ego-Shooter-Mentalität sieht. Ausgerechnet die Bundeswehr ahmt diese Ästhetik, diese Filmsprache neuerdings in ihren Werbevideos nach, um Nachwuchs zu rekrutieren."

Die Grenze zwischen der Türkei und Syrien ist 900 Kilometer lang

Am 26. September 2015 fliegen Janina Findeisen und Lauras Mutter nach Istanbul. Von dort geht es weiter nach Antakya, die türkische Universitätsstadt nahe der syrischen Grenze. Im Gepäck: eine Sicherheitsgarantie, die Laura per Mail übermittelt hat. In der islamischen Welt sei eine solche Sicherheitsgarantie mindestens so wertvoll wie ein Notarvertrag im Abendland, heißt es. Lauras Mutter wird von Panik ergriffen, als sie hört, dass die Russen Aleppo bombardieren. Also geht Janina, im siebten Monat schwanger, alleine ins vereinbarte Safehouse. "Geh nicht nach Syrien, das ist viel zu gefährlich", rät ihr dort die Syrerin Fatima, die Schwester des Schleusers namens Waleed. "Ich habe eine Sicherheitsgarantie meiner Freundin", entgegnet die deutsche Journalistin.

Nach drei Tagen brechen sie auf. Das Ziel: die syrische Stadt Al-Dana im Nordwesten von Idlib. 60 000 Einwohner, 38 Kilometer westlich von Aleppo. Bis 2013 in der Hand des IS. Bis die al-Nusra-Front siegte. Janina Findeisen trägt einen Niqab, der nur die Augenpartie freilässt, sie ist komplett verhüllt, sie trägt sogar schwarze Handschuhe, sie hat Order, sich als Waleeds Ehefrau auszugeben - und vor allem zu schweigen. Sie legen im Schutz der Dunkelheit die letzte Wegstrecke zu Fuß zurück. Ein schmaler Pfad. Geröll. Die Grenze zwischen der Türkei und Syrien ist 900 Kilometer lang. Sie klettern über den Grenzzaun.

Auf syrischer Seite steigen sie in ein Taxi. Das Safehouse in Al-Dana bewohnt Waleeds Bruder Abdullah. "Waleed zeigte mir mein Zimmer. Am nächsten Morgen wachte ich vom lauten Hupen eines Autos auf. Es ist der 5. Oktober 2015." Laura steht vor ihr. Sie hebt die oberste Lage ihres Schleiers hoch und zeigt ihr Gesicht. Zweifache Witwe. Nach dem Tod von Djavad hat sie Yassin Chouka geheiratet, der wenig später von iranischen Soldaten erschossen wurde. Drei kleine Kinder. Ein Mädchen, zwei Jungen. Die achtjährige Leila, die Janina Findeisen zuletzt als Baby in Bonn gesehen hat, und deren jüngere Brüder Mohammed und Achmed. Janina und Laura sind sich vertraut und fremd zugleich. Laura sagt Sätze wie: "Wir sind auserwählt worden, und Gott gibt uns die Stärke, diese Prüfung durchzustehen." Oder: "Ich will, dass meine Kinder in der Realität aufwachsen. Nicht in einer Seifenblase." Ihre Kinder sollen also in einer Welt aufwachsen, vor der so viele Syrer in Richtung Deutschland fliehen.

Zum Einschlafen wünschen sich die Kinder an diesem Abend ein Video. Laura zeigt ihnen kein Propagandavideo, sondern die "Sendung mit der Maus".

Seite 3: Chronologie einer Entführung

12. Oktober 2015. Nach sieben Tagen ist die Audienz beendet. Am Abend flüstert Janina Findeisen der kleinen Leila zu: "Ich bin immer für dich da, du kannst jederzeit zu mir nach Deutschland kommen, wenn es dir in Syrien nicht mehr gefällt." Die Achtjährige entgegnet: "Aber da wohnen doch nur Ungläubige!"

Zwölf Checkpoints bis zur Grenze. Alles geht schief. Zurück zum Safehouse. Laura und die Kinder sind weg. Nur ein türkisfarbener Plastikdiamant aus Leilas Prinzessinnenkrone liegt mitten im Zimmer auf dem Boden.

13. Oktober 2015. Zweiter Versuch nach Sonnenuntergang. "Dann passierte alles wie in Zeitlupe." Der Van wird von sechs Männern mit Sturmmasken und Kalaschnikows gestoppt. Die zerren Fahrer und Beifahrer aus dem Wagen. Einer der Maskierten setzt sich ans Lenkrad, ein weiterer auf den Beifahrersitz, die anderen vier Männer steigen durch die hintere Schiebetür ein, verbinden der deutschen Journalistin die Augen, der Wagen rast ins Dunkel der Nacht.

Janina Findeisen weiß in diesem Moment, dass sie entführt wird. Aber sie weiß nicht, dass 351 Tage Isolationshaft auf sie warten. "Entführt zu werden ist wie ins Koma fallen", schreibt sie später auf. "Du bist auf stumm geschaltet. Nach Monaten der Gefangenschaft kannst du nicht mehr zwischen Traum und Realität unterscheiden. Es kommt der Punkt, wo alles kippt. Ich kippe in die Hoffnungslosigkeit. Ich kippe in die Zukunftslosigkeit. Ich trage immer noch dieselben Sachen, die ich in der Nacht der Entführung getragen habe."

Eines Tages erscheint eine verschleierte Frau. Sie heißt Noor. Sie ist ausgebildete Gynäkologin, hat in Damaskus Medizin studiert. Sie erzählt, dass ihr Mann von den Terroristen inhaftiert wurde, damit sie mitspielt. Sie hat ein Ultraschallgerät dabei. "Sie ist mein Licht in der Dunkelheit, in der Einsamkeit."

Ständig wechseln die Entführer die Wohnung und damit Janinas Gefängnis, fast ein Dutzend Mal in den 351 Tagen. Immer nachts. Der Entführten werden für die Dauer der Fahrt die Augen verbunden.

"Mein Kind kommt gesund zur Welt. Ich bin dankbar. Auch Noor ist erleichtert. Ein Stein fällt ihr vom Herzen. Die Entführer haben gesagt, dass ihr Mann nach der Geburt zu ihr zurückkehren darf."

Am Abend des 23. Dezember erhält Janina Findeisen überraschend einen Fernseher: "Meine Rettung, mein Kamerad, mein Freund, meine Hypnose, mein Zeittunnel. Es ist jetzt tiefster Winter in Syrien. Draußen schneit es."

31. März 2016. Wieder Ortswechsel. Kein Fernseher mehr. 8. April 2016. Man nimmt ihr Stift und Papier weg. Sie kann ihr Tagebuch nicht fortführen. Sie bastelt Spielzeug für ihren kleinen Sohn. Olivenkerne in leere Plastikflasche: eine Rassel. Flusen und Fäden in halbleere Wasserflasche: ein Aquarium. "Mein Überleben verdanke ich der Liebe zu meinem Kind. Mein Sohn gab mir die Stärke, diese Zeit zu überstehen."

Man gibt ihr einen Koran in englischer Übersetzung. Sie liest, legt es nach der Lektüre auf dem Boden ab. "Du legst das heilige Buch einfach auf den schmutzigen Boden? Du bist nicht würdig, es zu besitzen." Man nimmt ihr den Koran wieder weg. Ein anderer Entführer bringt ihr einen riesigen Plüsch-Teddybären. Als Spielzeug für ihren Sohn. Ein Eisbär in einem roten Wollpullover mit Coca-Cola-Werbung drauf.

30. Mai 2016. Janine Findeisens Geburtstag. Einer der Entführer bringt ihr drei Twix-Schokoriegel und einen Plastikbecher mit 7-Up-Limonade. "Happy birthday", sagt er. Im Islam feiert man Geburtstag nicht. "Ich war zwei Jahre im Gefängnis von Assad", sagt der Maskierte. "Mein Bruder ist nicht mehr zurückgekommen."

Ramadan. Obwohl die Entführer fasten, bekommt die Entführte jeden Tag Frühstück, Mittagessen, Abendessen. Es gibt wieder einen Fernseher. Der funktioniert, so lange es Strom gibt. Ein paar Stunden pro Tag.

28. Juli 2016: "Ständig Bombenangriffe. Immer wieder werden Fenster und Türen von Druckwellen erschüttert. Ich schaue zur Beruhigung Deutsche Welle und habe Heimweh. Die Bilder von Deutschland berühren mich. Wie schön Deutschland ist!"

16. September 2016. Seit Tagen schon hört sie draußen immer wieder ein merkwürdiges Sirren.

Seite 4: "Wir bedauern, was dir angetan wurde"

Kurz nach elf Uhr abends. Sie schaut MBC 2, der saudi-arabische Sender zeigt rund um die Uhr Hollywoodfilme mit arabischen Untertiteln. "Plötzlich fallen vor dem Haus Schüsse, eine erste Salve, dann wird das Feuer erwidert." Draußen wird gekämpft. Dann erscheinen fünf Männer mit Kalaschnikows und schwarzen Gesichtsmasken. Sie rufen: "Janina. Janina. Freedom. Freedom." Sie ziehen sich die Masken vom Gesicht. Vor dem Haus steht ein weißer Van. "Was willst du haben? Wir können alles auf dem Basar besorgen." Sie besorgen Windeln, Feuchttücher, Äpfel, Fruchtgummis, Kuchen, Kekse, Orangen. Sie bringen Janina und ihr Baby in ein Haus in einem Vorort von Idlib. Sie darf sich im Haus und im Garten frei bewegen. Sie entschuldigen sich dafür, dass die Sicherheitsgarantie von einer abtrünnigen Splittergruppe nicht eingehalten wurde.

"Sie zeigen mir stolz Fotos, die ihre Drohne gemacht hat. Das Haus, aus dem sie mich befreit haben, aus der Vogelperspektive. Jetzt erklären sich auch die sirrenden Geräusche, die ich ständig hörte. Das Haus lag acht Kilometer von der türkischen Grenze entfernt und 22 Kilometer westlich von Aleppo."

Wer sind die Befreier? Kämpfer der al-Nusra-Front, die sich jetzt JFS nennt: Jabhat Fatah al-Sham. Die Gründer stammen aus der irakischen al-Qaida. 2011 unternahmen sie erste Anschläge auf militärische Einrichtungen der Assad-Truppen, unter anderem in Aleppo. Abu Muhammad al-Jolani, einer ihrer führenden Köpfe, verweigerte dem IS-Kalifen Abu Bakr al-Baghdadi den Treueschwur. Die al-Nusra-Front will das Assad-Regime stürzen und einen sunnitisch-salafistischen Staat gründen. Massive finanzielle Unterstützung soll sie vor allem aus dem Emirat Katar erhalten.

Einer der Kämpfer trägt ein Trikot von Bayern München, am nächsten Tag eines von Real Madrid. In Deutschland tragen Dschihadi-Salafis traditionelle muslimische Gewänder, um religiöse Authentizität zu suggerieren.

"Wir fahren mit dem weißen Van durch Idlib. Vorbei am Markt, vorbei an zerbombten Häusern. Wir fahren in Richtung Aleppo - das erste Mal seit fast einem Jahr bei Tag und ohne verbundene Augen."

Während der Fahrt von einem Safehouse zum anderen sagt einer der Kämpfer: "Wir bedauern, was dir angetan wurde. Das war vollkommen unislamisch. Ich möchte mich im Namen der Mudschahedin bei dir entschuldigen!"

Schließlich halten sie vor einer Villa. Frisch renoviert. Aufwendig saniert. Das Bad ist ungewöhnlich edel ausgestattet. Ein großer, breiter Mann kommt auf sie zu, er lächelt freundlich. Er trägt einen üppigen schwarzen Bart und um den Kopf ein schwarzes Tuch. "Hey, wie geht's? Ich bin Abu Sulayman", sagt er auf Englisch. Er wurde als Mustafa Mahamed 1984 im ägyptischen Port Said geboren. Seine Familie wanderte mit ihm nach Australien aus, als er ein Jahr alt war. Er wuchs in einem Vorort von Sydney auf. 2012 ging er nach Syrien. "Früher war ich ein Dozent an der Uni, jetzt bin ich in den Augen der Australier ein Terrorist." Nicht nur in den Augen der Australier: Die USA listen ihn als "specially designated global terrorist". Abu Sulayman lächelt und sagt: "Du wirst bald zu Hause sein. Wir alle hier bekämpfen den IS."

Sie wechseln erneut das Haus. Sie fahren durch ein Dorf in Nordsyrien. Kinder spielen auf der Straße. "Einer der jungen Kämpfer schaut mich an und ermahnt mich mit einer Geste, meinen Rock nach unten zu ziehen, der beim Sitzen über meine Knöchel hochgerutscht ist."

"Sie sind in Sicherheit", sagt der Mann vom Bundeskriminalamt

28. September 2016. Janina Findeisen und ihr Kind werden mit drei Fahrzeugen zur Grenze gebracht. Das letzte Stück begleiten sie sechs vermummte Kämpfer zu Fuß über einen verschlammten Acker in Richtung Türkei. Die Dschihadisten verabschieden sich von ihr.

"Sie bleiben zurück, während ich die letzten Meter alleine gehe. Sie winken. Auch ich hebe meine Hand zum Abschied und nicke ihnen zu. Mit meinem Kind auf dem Arm gehe ich die letzten Schritte in Richtung Freiheit. Ich sehe einen einzelnen großen Mann vor der Grenze stehen." Der Mann lächelt und gibt ihr die Hand. "Willkommen, Frau Findeisen! Jetzt sind Sie in Sicherheit!", sagt er auf Deutsch. Er ist vom Bundeskriminalamt.

Janina Findeisen hat ein Buch über diese Zeit geschrieben (siehe unten). "Mein Zimmer im Haus des Krieges", bei Piper erschienen, ist weit mehr als ein Befindlichkeits- und Betroffenheits-Bericht. Es ist eine kluge Reflexion der Ethnologin und Religionswissenschaftlerin über ein lange verdrängtes politisches und kulturelles Phänomen. Die Journalistin konnte nachträglich recherchieren, wer für ihre Entführung und die 351-tägige Isolationshaft verantwortlich war. Sie ist ihm sogar begegnet, aber da ließ er sich nur "Commander" nennen: "Sein Name ist Al-Juhni, er ist saudischer Staatsbürger und wurde am 4. Dezember 1971 in Kharj in Saudi-Arabien geboren. Er ist ein langjähriges Al-Qaida-Mitglied und war in Waziristan für die Sicherheit von Osama Bin Laden verantwortlich. Er steht auf der UN-Terrorliste."

In der Rückschau geht Janina Findeisen mit sich selbst hart ins Gericht: "Ich wurde nicht vergewaltigt, ich wurde nicht gefoltert. Ich hatte unglaubliches Glück. Journalisten wie James Foley und Steven Sotloff wurden vom Islamischen Staat vor laufender Kamera enthauptet. Ich wollte eine Geschichte erzählen, die Grenzen überwindet. Ich wollte eine Geschichte erzählen, die von Freundschaft und Vertrauen handelt. Mein Vertrauen war blind, und ich habe den falschen Menschen vertraut. Meine Entscheidung, schwanger in ein Land zu reisen, in dem Krieg herrscht, ist heute nicht mehr zu begreifen. Es war verantwortungslos, leichtsinnig und falsch. Ich bedauere diesen Schritt zutiefst."

Der Kulturschock erfasste sie nicht in Syrien, sondern erst lange nach ihrer Landung auf dem Flughafen Köln/Bonn: "Ich versuche, in mein altes Leben zurückzukehren, aber es hat sich aufgelöst. Es gibt mein altes Leben nicht mehr."

Janina Findeisen: Mein Zimmer im Haus des Krieges. Piper, Hardcover, 336 Seiten, 20 Euro. Lesung in Bonn: Am Mittwoch, 15. Mai, liest sie in ihrer Heimatstadt. Gastgeber ist das Haus der Evangelischen Kirche, (20 Uhr, Adenauaerallee 37, Eintritt 10 Euro). Karten sind vorab in der Buchhandlung erhältlich oder lassen sich reservieren: 0228 / 223608 oder per Mail: info@buchLaden46.de

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