Digitalisierung in der Unibibliothek Bonn Vom Bücherspeicher zum Bonner Lernort

Die Bonner Universitäts- und Landesbibliothek verändert sich in rasantem Tempo. Im Lesesaal liegen heute mehr Laptops als Bücher auf den Tischen

 Pionierin der Digitalisierung: Renate Vogt, bis zum Jahreswechsel Direktorin der Universitäts- und Landesbibliothek Bonn.

Pionierin der Digitalisierung: Renate Vogt, bis zum Jahreswechsel Direktorin der Universitäts- und Landesbibliothek Bonn.

Foto: Volker Lannert

Bücher ohne Ende, aber sie füllen nicht mehr Regalmeter für Regalmeter, sondern begnügen sich mit deutlich geringerem Speicherplatz und einem kleinen Lesegerät. Kein Grübeln mehr über Umfang und Gewicht der Urlaubslektüre, obsolet die Frage, ob drei Romane für zwei Wochen reichen.

E-Reader für Leseratten

Tolino, Kindle oder Kobo heißen die E-Reader, mit denen sich einerseits die Probleme vieler Leseratten minimieren lassen. Andererseits können viele vom knisternden Papier nicht lassen, versprechen schön gestaltete und illustrierte Bücher zusätzlich eine Augenweide. So viel zur Digitalisierung von Literatur für den eigenen Hausgebrauch.

In ganz anderen Größenordnungen sind Bibliotheken unterwegs: Allein der Altbestand, der sich in den unterirdischen Magazinen der Bonner Universitäts- und Landesbibliothek (ULB) an der Adenauerallee Buchrücken an Buchrücken reiht, umfasst knapp eine halbe Million Bände. Darunter handgefertigte Bücher, zum Teil noch auf Hadernpapier aus Lumpenresten gedruckt, bis ab Mitte des 19. Jahrhunderts auf Zellulose umgestellt wurde.

Manche der Bände, die kaum ein Mensch je zur Hand nehmen oder gar damit arbeiten durfte, sind heute im Netz für jedermann zugänglich. Retrodigitalisierung nennen es die Fachleute, wenn Gedrucktes im Nachhinein gescannt und digital verfügbar gemacht wird. Im Gegensatz zu Werken, die „digital born“ ans Licht der Welt kommen, also von vorne herein digitalisiert verbreitet werden.

Vor- und Nachteile der Digitalisierung

„Der Nutzer kriegt so viel wie möglich so schnell wie möglich auf den eigenen Schreibtisch“, beschreibt Michael Herkenhoff einen der wichtigsten Vorteile der Digitalisierung. Er kümmert sich in der ULB um Digitalisierungsprojekte und weiß als Experte um Vor- und Nachteile.

„Digitalisate sind viel schneller durchsuchbar“, problematisch sei aber, dass alles, was nicht elektronisch zugänglich sei, aus dem Blickfeld verschwinde. Und damit ein ganzer Zeitraum. Denn im Netz zu haben sind natürlich alle aktuellen Werke, die sofort digital publiziert werden, und die Werke des 16. bis 19. Jahrhunderts, weil das Urheberrecht keine Steine mehr in den Weg legt.

Ganz anders bei den Büchern, die dazwischen erschienen sind. Bis 70 Jahre nach dem Tod des Verfassers gilt das Urheberrecht, bevor es erlischt. „Derzeit digitalisieren wir also die Bücher von 1945 verstorbenen Autoren“, sagt Herkenhoff.

Nur urheberrechtsfreie Literatur

Kein Wunder, dass seine berufliche Beschäftigung mit Urheberrechtsfragen auch auf sein privates Verhalten abfärbt: „Auf meinem Reader lese ich nur urheberrechtsfreie Literatur.“

Von der ersten Stunde an dabei war Renate Vogt, bis zum Jahreswechsel ULB-Direktorin. „Vor rund 20 Jahren haben wir angefangen, analoge Objekte einzuscannen.“ Damals hatte ihr Vorgänger viele Ideen von einer Studienreise in die USA mitgebracht. „

1985 habe ich den ersten PC für das Haus angeschafft“, erzählt Vogt in Erinnerung an kaum mehr vorstellbare Zeiten, in denen der einzige Rechner wie ein Heiligtum in einem separaten Raum stand und nur Autorisierte Zugang zu den teuren Datenbanken hatten. „Wissenschaftler und Studenten gaben kostenpflichtige Aufträge für Recherchen ab und zahlten nach Zeit und Trefferquote.“

Mehr Laptops als Bücher

Wer heute in den lichten Lesesaal der ULB kommt, sieht mehr Laptops als Bücher auf den Tischen. Mit größerer Selbstverständlichkeit bewegen sich Studierende und Wissenschaftler in digitalen Welten, als sie am Schalter Bücher ausleihen. „Das ist heute immer noch Teil der Wirklichkeit, aber der Umfang hat abgenommen“, sagt Vogt.

Die ULB mutierte von der lokal verfügbaren Buchsammlung zum dezentral nutzbaren Wissensspeicher. Wer von der Bibliothek zur Verfügung gestellte Inhalte sucht, kann sie heute unabhängig von Zeit und Raum nutzen. „Wir entwickeln uns immer mehr zu einem Kompetenzzentrum für digitales Publizieren, beraten Wissenschaftler, wie sie vorgehen können“, berichtet Vogt.

Klassische Bücherfächer

Und die gehen bisher noch recht unterschiedlich mit digitalisierten Inhalten um. Geschichte, Germanistik und Theologie seien noch „klassische Bücherfächer“, sagt Michael Herkenhoff. „Aber selbst in den Geisteswissenschaften ist das Elektronische auf dem Vormarsch.“

Dennoch, ergänzt Vogt, gebe es in diesen Disziplinen noch Institutsbibiotheken, die in der Biologie oder Medizin auch aufgrund des sich schneller verändernden Wissensstands verschwunden seien. Die Naturwissenschaften seien traditionell „Zeitschriftenfächer“, in denen neue Erkenntnisse seit geraumer Zeit nur noch digital publiziert würden, somit leichter am Bildschirm zu konsumieren und auszudrucken seien. Klar, dass die ULB dem Rechnung trägt, auch wenn die digitale Nutzung viel Geld kostet.

„Was wir seit drei bis vier Jahren beobachten, ist, dass die Bibliotheksnutzung gemessen an den Ausleihzahlen deutlich zurückgeht“, beschreibt Herkenhoff. Die Nutzung des Lesesaals dagegen bleibe konstant.

Weniger Ablenkung als zu Hause

Was er darauf zurückführt, dass die Schweigepflicht im Saal zu disziplinierterem Arbeiten beitrage, die Versuchungen, sich ablenken zu lassen, geringer seien als zu Hause. „Am Ende des Semesters ist es so voll, dass wir Eingangskontrollen machen müssen“, sagt Vogt. Dann haben Studierende Vorrang. Die Bonner Universitäts- und Landesbibliothek im Wandel – vom Bücherspeicher hin zum Lern- und Arbeitsort.

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