Eine alleinerziehende Mutter erzählt Viele Bonner leben trotz Vollzeitjobs am Existenzminimum

Bonn · Michaela Miersch arbeitet in Vollzeit und dennoch reicht das Geld vorne und hinten nicht. Das Problem: Als Hartz-IV-Empfängerin seien viele Kosten weggefallen, die sie heute selbst tragen müsse.

Wenn Lachfalten um die Mundpartie generell auf ein rundum sorgloses Leben schließen lassen, dann ist Michaela Miersch (Name geändert) aus der Art gefallen. Die Tränendrüse der fröhlichen Frau scheint jedenfalls nicht viel zu tun zu haben. Und trotzdem: Von Sorglosigkeit ist die fröhliche Bonnerin weit entfernt. „Wir kommen zurecht, nur Unvorhergesehenes darf nicht passieren, sonst kann auch der Gang zur Eisdiele unerschwinglich werden“, schildert die junge Frau ihre finanzielle Situation. Mancher Tag beginnt mit dem Gedanken: Bitte lass' mein Auto nicht kaputtgehen.

Die 34-Jährige steht exemplarisch für eine Gruppe, die in Statistiken oder Schlagzeilen selten vorkommt, obwohl sie beständig wächst: All jene, die täglich arbeiten gehen, keine Sozialhilfeleistungen beziehen – und mit ihrem „Geradeso-Verdienst“ dennoch ständig in Geldnot sind und kaum Aussicht darauf haben, dass sich etwas ändert. Ein Teufelskreis.

Sie spart für die Klassenfahrt im übernächsten Jahr

Michaela Miersch sitzt am Esstisch ihrer Wohnung und erzählt. Von ihrer Kindheit in einem typischen Bonner Stadtteil, von ihrer Schulzeit bis zum Fachabitur auf der Höheren Handelsschule und der kaufmännischen Ausbildung. „Damals sagten alle: Mach' das, dann hast du etwas Bombenfestes“, erinnert sie sich. Kurz nach der Ausbildung wurde sie Mutter, die Beziehung zum Vater des Sohnes überdauerte die Geburt nicht. Elf Jahre ist das her, seitdem ist sie alleinerziehende Mutter.

Zunächst kehrte sie in Teilzeit zurück in ihren kaufmännischen Beruf, pendelte – mit Zwischenstopps in der Kita – nach Köln und verbrachte vier Stunden am Tag in Zügen, Bahnen und Bussen. „Ich habe das hinbekommen, war aber auf ergänzende Leistungen angewiesen“, erzählt die damalige „Hartz-IV-Aufstockerin“. Eine eigene Wohnung zu finden, hätte ohne Hilfe der Eltern kaum geklappt: Die schlossen für die Tochter den Mietvertrag ab und vermieteten die Wohnung in Absprache mit dem Vermieter an sie weiter.

Seit einiger Zeit arbeitet Michaela Miersch wieder in Vollzeit und ist glücklich mit ihrer Stelle in der Verwaltung einer sozialen Einrichtung. Allerdings: Verändert hat sich ihr Lebensstandard damit nicht. Das Problem: „Als Hartz-IV-Empfängerin sind viele Kosten weggefallen, die ich heute komplett tragen muss: GEZ-Gebühr, der Eigenanteil für Schulbücher, Klassenfahrten“, schildert sie die Situation. „Weder sind wir Bezieher von Arbeitslosengeld, noch Zugewanderte noch in sonst einer Randgruppe, die mit Aufmerksamkeit bedacht wird. Wir fallen durch sämtliche Raster – gesellschaftlich und finanziell“.

Fitnessstudio ist der einzige Luxus

Auch auf die Vergünstigungen durch den Bonn-Ausweis, etwa für Fahrkarten oder den Eintritt ins Schwimmbad, haben sie und ihr Sohn keinen Anspruch mehr. Unterm Strich landet die 34-Jährige am Ende eines Monats genau dort, wo sie in Teilzeit mit Hartz IV-Aufstockung auch lag – mit dem Unterschied, dass sie nun doppelt so viel arbeitet. Von den 1700 Euro, die sie angelehnt an den Tarif des öffentlichen Dienstes netto verdient, bleibt am Monatsende nur so viel übrig, um rund 200 Euro für Unvorhergesehenes oder Rechnungen zurückzulegen, die in größeren Intervallen eintrudeln - wie Versicherungen oder den TÜV. Der einzige Luxus, den sie sich selbst gönnt, kostet 25 Euro – ein Abonnement fürs Fitnessstudio. Und hin und wieder ein Kurzurlaub, finanziert durch einen Zweitjob am Wochenende oder abends.

„Gerade spare ich für die Klassenfahrt, an der mein Sohn im übernächsten Jahr teilnehmen möchte“, erzählt sie. Eigentlich würde sie gern die Fixkosten senken, doch eine günstigere Wohnung sei nicht zu finden. „Selbst in Tannenbusch, Auerberg oder Buschdorf ziehen die Preise an“, sagt sie. Die wirklich günstigen Wohnungen werden vorbehalten für Menschen, die von Amts wegen Anspruch auf Vergünstigungen und damit den Wohnberechtigungsschein haben. Seit Michaela Miersch wieder in Vollzeit arbeitet, gehört sie nicht mehr dazu. „Man fühlt sich übersehen“, sagt sie, bewusst zweideutig, von den Behörden, der Gesellschaft.

Sozialneid liegt ihr fern

Also wird sie wohl in ihrer Wohnung bleiben, weiter Second-Hand-Kleidung kaufen und die Wünsche ihres Kindes zu erfüllen versuchen, soweit das geht. Dass sie in ihrem bürgerlichen Stadtteil von Familien mit Jobs bei Post und Telekom umgeben ist, lässt die Unterschiede sichtbar werden: „Kindergeburtstage und die Geschenke dort können dann höchst unterschiedlich ausfallen“, sagt sie schmunzelnd. Sozialneid liege ihr fern, entsprechend habe sie damit kein Problem.

Gerade bemüht sie sich, Geld für die Ausrüstung zusammenzukratzen, die der Elfjährige für den Sportverein braucht. Auf der Suche nach Unterstützung durch soziale Dienste hörte sie eine bekannte Erklärung: „Tut uns leid, Sie sind nicht im Leistungsbezug.“ Und was ist mit der Option, die Arbeit an den Nagel zu hängen und doch wieder auf staatliche Leistungen zu setzen? „Geäußert habe ich das natürlich in manchem verzweifelten Moment schon“, sagt die Angestellte und schiebt schnell nach: „Aber dafür bin ich nicht der Typ. Ich bin froh, dass ich arbeiten gehen kann“. Nicht zuletzt, um ihre Situation zu stabilisieren und irgendwann zu verbessern. Bis dahin gehen die täglichen finanziellen Klimmzüge weiter, unbemerkt von Nachbarn und Behörden. Trotzdem – und auch das war für sie ein Beweggrund, sich bei der Redaktion des General-Anzeigers zu melden – ist Michaela Miersch sicher: „Wir sind viele“.

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