Jannick Tapken Urgroßvater des Bonners war KZ-Aufseher in Dachau

BONN · Am Ende seiner vierjährigen Recherche steht Jannick Tapken doch ziemlich verloren vor dem ehemaligen Konzentrationslager Dachau. Das schmiedeeiserne Tor mit dem zynischen Spruch "Arbeit macht frei" des Nazi-Terrorregimes öffnet sich. Und der Elfklässler des Amos-Comenius-Gymnasiums betritt mit blassem Gesicht die Stätte des Todes.

41.000 Verfolgte des Dritten Reiches mussten hier qualvoll sterben. Jannick schluckt. Eine aufwühlende Reise in die Vergangenheit seiner Familie liegt hinter ihm. "Auf einem dieser Wachtürme stand also mein Urgroßvater Arthur", kommentiert Jannick mit belegter Stimme. ZDFinfo hat kürzlich "Jannicks Spurensuche" nachgestellt.

Vielleicht sei dieser Arthur ja nur ein kleiner Bewacher am Zaun gewesen, versucht der 17-Jährige in dem Film Distanz zu finden. "Aber der Blick von draußen muss dann doch der gleiche wie im KZ gewesen sein. Mein Uropa muss gewusst haben, was hier passierte", schießt es durch Jannicks Kopf. Er weiß erst seit ein paar Monaten, dass sein Vorfahre die vier letzten mörderischen KZ-Monate von Januar bis April 1945 in diesem Todeslager Dienst tat.

Auf die Idee gebracht hatte den Schüler die Amos-Schauspielarbeit unter Anette Niefindt-Umlauff. In dem Stück "Stern ohne Himmel" von Leonie Ossowski spielte der 14-Jährige einen Hitler-Jungen. "Das Thema habe ich damals eigentlich gar nicht verstanden", blickt Jannick zurück und streicht im Theaterfundus gedankenverloren über sein Hakenkreuzkostüm. Dann reiften in seinem Kopf Fragen.

Wo hatte eigentlich seine Familie im Unrechtsstaat gestanden? Jannick wühlte sich im Keller durch Kartons - und stieß auf das Tagebuch eines 1943 gefallenen Großonkels. Neugierig las er sich in die Horrorgeschichte des Zweiten Weltkriegs ein. Da fiel ihm auch Material in die Hände über einen Urgroßvater, an den er nur blasse Erinnerungen hatte. "Da stand also, dass dieser Arthur bei der Waffen-SS war." Und zum SS-Totenkopfverband gehörte. Und in den KZs Plszow und Dachau Wache schob.

Sein Vater sei ebenso schockiert gewesen, berichtet Jannick. Obwohl Jan Tapken im Familienkreis zumindest wohl schon etwas von einer SS-Mitgliedschaft aufgeschnappt hatte. "Seither haben mich meine Eltern sehr bei meiner weiteren Recherche unterstützt." Denn der Junge wollte auch unangenehme Fragen stellen, nicht nur in Büchern die Erklärungen anderer nachlesen. "Ich wollte wissen, was meinen Uropa dazu gebracht hat."

Jannicks Spurensuche nahm Fahrt auf. Der Gymnasiast verschaffte sich über Archive, das Internet und Telefonbücher Kontakte zu Zeitzeugen und Veteranen des Zweiten Weltkriegs. "Denn heute haben wir ja die letzte Chance, Informationen von unmittelbar Beteiligten zu bekommen."

Schließlich sitzt Jannik bei der Witwe des U-Boot-Kommandanten Johann Otto Krieg und hört von 23 "Feindfahrten", die allesamt "Todesunternehmen" waren. Ex-Jagdflieger Hugo Broch, der sich 1939 blutjung zur Front meldete, weil er sein Vaterland "verteidigen" wollte, erzählt stolz, gleich die erste Feindberührung per Abschuss beendet zu haben. Jannick schreibt nachdenklich mit. Auch sein Urgroßvater war in die SS eingetreten.

Hatte Arthur sich berufliche Vorteile versprochen? War er von den menschenverachtenden SS-Zielen überzeugt? Jannick hat sich mittlerweile im SS-Dokumentationszentrum Wewelsburg die schwarzen Totenkopf-Uniformen angeschaut, die auch der Uropa trug. Seine anfangs unbedarften Fragen haben ihm viele Türen geöffnet. Er hat den Zeitzeugen bewusst nicht gleich die Schuldfrage gestellt, es sich jedoch bald zur Maxime gemacht, Taten nicht bagatellisieren zu lassen.

In der stärksten Szene des Films traut sich der Urgroßenkel eines KZ-Wachmanns dann auch, einen der wenigen Überlebenden von Dachau aufzusuchen. "Nicht selbst schuldig", aber schon mit weichen Knien sei er nach München zu Max Mannheimer gereist, so Jannick. Und dann empfängt ihn dieser kleine alte Mann so souverän und freundlich und verheimlicht ihm nicht die eigenen Versagensängste im Lager. Jannick ist sprachlos.

Mannheimer schildert, wie sadistische KZ-Wächter Hunde auf Häftlinge hetzten, bis die sich verbissen, dass andere Aufseher aber auch menschlicher waren. Sie hätten einfach nur selbst nicht an der Front sterben wollen. Fassungslos starrt Jannick auf die im Arm eintätowierte KZ-Nummer, die Mannheimer ihm plötzlich zeigt. Wie muss der eigene Urgroßvater die letzten vier Monate in Dachau nur verarbeitet haben, fragt sich der Urenkel. In der Familie kommt er nicht weiter. Die Zeitzeugen sind gestorben. Der KZ-Dienst wurde totgeschwiegen.

Der Uropa müsse den Wahnsinn wohl verdrängt haben, denkt Jannick, als er in Dachau die endlose Lagerstraße entlanggeht. Aber wie ging die Familie damit um, dass der Ernährer dabei half, 63.000 unschuldige Menschen unter katastrophalen Bedingungen zusammenzupferchen? Was hätte er, Jannick, getan, wenn er damals gelebt hätte? "Ich werde am Thema dranbleiben", beschließt er. In Schulen berichtet Jannick inzwischen von seiner Reise in die Vergangenheit. Und mit seiner wachsenden Zahl von Dokumenten und gesammelten Objekten plant er bald eine eigene Ausstellung.

Hinweis: Die 45-minütige ZDFinfo-Dokumentation "Jannicks Spurensuche" ist noch in der Mediathek des ZDF zu sehen.

Das KZ Dachau

Jannicks Spurensuche beginnt und endet im ehemaligen KZ Dachau, in dessen zwölfjährigem Bestehen über 200.000 Menschen aus ganz Europa inhaftiert waren. 41.500 wurden ermordet. Ab Ende 1944 waren über 63.000 Häftlinge im KZ und seinen Außenlagern. Die katastrophalen Lebensbedingungen führten zu einer Typhusepidemie. Tausende starben daran, bei Evakuierungsmärschen oder an den Folgen der Unterernährung. Am 29. April 1945 befreiten amerikanische Truppen die Überlebenden.

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