Bonner Zeitschrift "Ohrenkuss" wird von Menschen mit Down-Syndrom gemacht

Bonn · Vor 20 Jahren wurde die Zeitschrift „Ohrenkuss“ aus der Taufe gehoben. Die Zeitschrift wird von Menschen mit Down-Syndrom gemacht, die ihren Redaktionsalltag jetzt bei einem Tag der offenen Tür präsentierten.

Kann man Seegurken eigentlich essen? Paul ist skeptisch. Er will darüber etwas schreiben. Also: Recherche. Er fragt einen Fachmann. „Nein eigentlich nicht, denn Seegurken sind Tiere, die zur Gruppe der Seeigel und Seesterne gehören. In Japan werden allerdings hin und wieder getrocknete Seegurken verspeist“, erklärt Harald Benke, Museumsdirektor des Ozeaneums in Stralsund.

Er ist per Skype zugeschaltet. Paul stellt die Fragen, er hat sie sich ausgedacht. Aufgeschrieben hat sie Anne Leichtfuß, seine Assistentin. Sie hat ihm kurz zuvor auch noch mal erklärt, was jetzt zu tun ist. Erst vorstellen, dann die Fragen vorlesen. Paul lebt mit Down-Syndrom, eine angeborene Kombination aus verschiedenen geistigen und körperlichen Behinderungen.

Er und seine Kollegen, die allesamt ebenfalls Menschen mit Down-Syndrom sind, wollen vieles über den Ozean wissen, denn das ist das Thema ihrer nächsten Ausgabe von „Ohrenkuss“. Heute ist Tag der offenen Tür, zum ersten Mal seit „Ohrenkuss“ vor 20 Jahren gegründet wurde. Gelegenheit, sich den Redaktionsalltag anzuschauen. Die Idee dazu hatte Paul.

Der 24-Jährige interessiert sich vor allem für Musik. Er spielt Blockflöte, Bass und Schlagzeug. Und ins Kino geht Paul gerne. Lieblingsfilm, wie sollte es anders sein: „Unsere Erde 2“. Ein Film, bei dem die Ozeane mit ihrer vielfältigen Tierwelt eine wichtige Rolle spielen. Die Zeitschrift ist werbefrei und finanziert sich laut Leichtfuß durch die Abonnements. Rund 4000 seien das aktuell. Dazu kommen Lesetouren und Spenden. Zweimal im Jahr gibt es ein neues 36 Seiten langes Exemplar. In der letzten Ausgabe ging es um die Schweiz. Paul hat darin einen Beitrag über das Schweizer Taschenmesser geschrieben.

Zweimal im Monat treffen sich die insgesamt 20 Journalisten. Es können nicht immer alle kommen, denn sie verteilen sich auf ganz Deutschland. Dazu kommen rund 35 Korrespondenten auf der ganzen Welt, unter anderem auch in Melbourne.

Bei der Arbeit unterstützen sie Assistenten. „Das ist notwendig, weil Paul und seine Kollegen nicht alles alleine machen können“, erklärt Leichtfuß. Besonders schwierig ist es für Menschen mit Down-Syndrom, spontan zu reagieren, keine Fragen zu stellen, die der Gesprächspartner bereits beantwortet hat. Leichtfuß arbeitet hauptberuflich bei „Ohrenkuss“. Zuvor hat sie Buchhändlerin gelernt, Online-Journalismus studiert und ein Praktikum bei „Ohrenkuss“ gemacht. Sie begleitet den journalistischen Alltag als eine von mehreren Assistenten. Am besten funktioniere das, so Leichtfuß, mit Menschen, die aus dem Medienbereich kommen. Nicht so sehr mit Pädagogen. „Die sind dann schnell dabei, beim Schuhebinden helfen zu wollen. Aber darum geht es nicht.“

Die Skepsis gegenüber Menschen mit Down-Syndrom und ihren Fähigkeiten sei bei vielen Menschen am Anfang groß. Auf der Internetseite der Zeitschrift ist davon die Rede, dass man im Gründungsjahr 1998 noch davon ausgegangen ist, dass Menschen mit Down-Syndrom nicht lesen oder schreiben können.

„Das sind selten inhaltliche Probleme. Es geht um die Form, um eine leichte Sprache“, sagt Leichtfuß. Das sei im Medienbetrieb mitunter problematisch. Zwei Zeitungen bieten ein Produkt in leichter Sprache an: die „Augsburger Allgemeine“ und der Online-Auftritt der „taz“.

Wenn das „Ohrenkuss“-Team Menschen interviewt, sind die Assistenten als Unterstützung dabei. „Es kommt wirklich selten vor, dass wir Ressentiments spüren. Es ist eher mal so, dass die Gesprächspartner uns anschauen, anstatt mit den Interviewern zu sprechen. Das hat sicherlich etwas mit Unsicherheit zu tun“, sagt Leichtfuß.

Nachdem das Gespräch mit Harald Benke vorbei ist, tauschen alle Anwesenden eine Socke aus. Ein Ritual zum Tag des Down-Syndroms, der immer am 21. März ist. Es soll zeigen, dass es normal ist, anders zu sein.

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