Nicht nur im Notfall die 112 Mit Wehwehchen in die Bonner Notaufnahme

Bonn · Die Zahl der Rettungsdiensteinsätze steigt in Bonn seit Jahren an. Doch viele wären laut Experten vermeidbar, weil sie keine akuten Notfälle sind. Für das Gesundheitssystem bedeutet der Missbrauch höhere Kosten.

Der Funkspruch aus der Leitstelle klingt dringend. Der Patient hat vorher am Notruftelefon über starke Schmerzen im Bauchraum geklagt. „Das kann durchaus eine Indikation für einen Rettungseinsatz sein“, sagt Notfallsanitäter Markus Lülsdorf vom Arbeiter-Samariter-Bund (ASB). In aller Eile steuert Lülsdorf den Rettungswagen deshalb von der Rettungswache 1 im Lievelingsweg 112 durch den Berufsverkehr und die Baustellen der Innenstadt zum Einsatzort in der Nähe des Bundeskanzlerplatzes. Zwölf Minuten Stress mit Blaulicht und Martinshorn für Lülsdorf und seinen Kollegen auf dem Beifahrersitz. Vor Ort wird der erfahrene Sanitäter bereits erwartet – von einem Mann mit gepacktem Rollköfferchen am Straßenrand. Er wolle sich das Taxi sparen, begründet der Patient – und nun zur vorsorglichen Untersuchung ins Krankenhaus seiner Wahl.

„Die Notfallrettung hat die Aufgabe, bei Notfallpatientinnen und Notfallpatienten lebensrettende Maßnahmen am Notfallort durchzuführen, deren Transportfähigkeit herzustellen und sie unter Aufrechterhaltung der Transportfähigkeit und Vermeidung weiterer Schäden mit Notarzt- oder Rettungswagen oder Luftfahrzeugen in ein für die weitere Versorgung geeignetes Krankenhaus zu befördern“, heißt es in der Gebührenordnung des Bonner Rettungsdienstes.

Immer häufiger aber würden Patienten den Notruf 112 wählen, die tatsächlich nicht in Lebensgefahr schweben, berichten Rettungsdienste aus ihrer täglichen Arbeit – und das mit weitreichenden Konsequenzen. „Wir haben inzwischen nahezu in jeder Schicht einen Fall, in dem ein Rettungseinsatz nicht nötig wäre“, sagt Lülsdorf, der seit 17 Jahren regelmäßig Einsätze fährt. Auch seine Kollegin Nina Radtke bestätigt diese Entwicklung. Sie ist seit 2006 dabei.

Rettungswagen als Taxi ins Krankenhaus

Nicht alle Fälle sind dabei derart krass wie das beschriebene Extrem. Doch viele Patienten hätten eine ausgesprochene Anspruchshaltung, beobachtet auch Dirk Lötschert, Abteilungsleiter Rettungsdienst beim ASB. Während Hausärzte eher restriktiv mit ihren Öffnungszeiten umgehen, erwarten viele Menschen gerade im Gesundheitswesen eine 24–Stunden-Versorgung. Das reiche bis zum gewünschten Gipswechsel morgens früh um 5 Uhr bevor man in den Familienurlaub starte. „Die Leute sagen den Kollegen im Einsatz ins Gesicht, sie wollten für ihre Krankenkassenbeiträge auch Leistungen sehen“, erzählt Lötschert. Oder sie hofften darauf, in der Notfallambulanz schneller behandelt zu werden.

Andere Patienten sind auch mit kleineren Verletzungen schlicht überfordert. Lötschert glaubt: „Das reicht vom Kindergarten bis ins Pflegeheim. Niemand möchte mehr Verantwortung übernehmen.“ Schon bei einem Schnitt in die Fingerkuppe wollten viele Menschen ärztlichen Rat. Angesichts von Horrorgeschichten aus dem Internet über eingeschleppte Keime erwarteten viele stets das Schlimmstmögliche. Und jeder wolle sich rechtlich absichern – etwa nach einem leichten Auffahrunfall. Vielleicht ist ja doch ein Schleudertrauma mit Schmerzensgeldanspruch drin. Oder eine Unfallrente der Berufsgenossenschaft. Selbst für lauffähige Patienten ohne akute Gefahr werde oftmals lieber der Rettungswagen bestellt. Die Angehörigen führen dann samt Gepäck hinterher. Auch bei der Bonner Berufsfeuerwehr, die den städtischen Rettungsdienst betreibt, erleben die Mitarbeiter Ähnliches. „Eine gewisse Anspruchshaltung ist zu beobachten“, berichtet Markus Schmitz vom Presseamt. Das Phänomen betreffe alle Altersgruppen und Schichten der Bevölkerung.

Die Zahl der Rettungseinsätze ist damit im letzten Jahrzehnt in Bonn deutlich gestiegen. Wurden die Sanitäter 2010 zu 63 570 Einsätzen gerufen, so waren es 2017 bereits 76 083. Der Höchstwert lag 2015 bei 77 433. Der Bedarfsplan der Stadt Bonn wurde daher regelmäßig aufgestockt. So soll garantiert werden, dass Rettungskräfte im Notfall in acht Minuten im gesamten Stadtgebiet vor Ort sind. Einen gewissen Anteil an dieser Steigerung haben allerdings auch die Zunahme der Bevölkerung in Bonn und technische Fortschritte in der Medizin. So leben heute Beatmungspatienten zu Hause, die noch vor zehn oder 15 Jahren nur im Krankenhaus oder Pflegeheim versorgt wurden.

Oma und Opa im Krankenhaus parken

Gerade an den Feiertagen wie Ostern und Weihnachten nehmen die Anrufe beim Rettungsdienst deutlich zu. Dabei gebe es zwei Gruppen, sagt Lötschert: die einen, die ihre Eltern oder Großeltern über die Festtage besuchen und entsetzt über deren Zustand die 112 wählen – und Heimpflegende, die Oma oder Opa für den Kurzurlaub als vermeintlichen Notfall im Krankenhaus unterbringen. Für das Gesundheitssystem in Bonn hat das erhebliche Folgen: Zum einen entstehen der Versichertengemeinschaft hohe Kosten. 429,60 Euro berechnet die Stadt den Krankenkassen für einen Rettungseinsatz. Kommt der Notarzt hinzu, fallen zusätzlich 447,55 Euro an.

Doch damit nicht genug: Die Sanitäter bringen Patienten grundsätzlich in eines der Bonner Krankenhäuser. Deren Ambulanzen, allen voran die Notfallambulanz der Uniklinik, sind gerade an Wochenenden ohnehin schon stark frequentiert, weil auch viele Bewohner aus dem mit Kliniken eher dünn ausgestatteten Rhein-Sieg-Kreis Hilfe suchen. Zu den Zuständen schweigt die Uniklinik. Man wolle sich aus politischen Gründen vorerst nicht äußern, heißt es schriftlich.

Radke, Lülsdorf und ihre Kollegen müssen in solchen Fällen oft selbst länger warten, bis ein Patient übernommen wird. Das bindet Personal, das vielleicht andernorts gebraucht würde. Jede Viertelstunde Wartezeit kostet die Krankenkassen überdies 107,40 Euro. Oft sind die vorhandenen Betten auch mit minder schweren Fällen belegt. „Dann beginnt die Suche nach einem anderen Krankenhaus, das aufnehmen kann“, erklärt Dirk Lötschert. Regelmäßig müssen die Sanitäter ihre Patienten anschließend nach Sieglar oder Siegburg bringen – in manchen Fällen sogar bis nach Euskirchen.

Nur der Arzt darf entscheiden

Dass sich am Verhalten ihrer Mitmenschen etwas ändern wird, glauben Markus Lülsdorf und Nina Radtke nicht. Zu erfolgreich seien die Patienten mit ihrem Verhalten. „Das wirkt wie eine Selbstbestätigung“, glaubt Lülsdorf. Um sich vor Regressansprüchen zu schützen, müssen die Sanitäter schließlich auch solche Patienten mitnehmen, die einen Rettungswagen eigentlich nicht brauchen. Nur ein Arzt kann entscheiden, ob eine Behandlung notwendig ist oder nicht.

Bei einem vernünftigen Umgang mit der Notrufnummer 112 könnte in Bonn mindestens ein Rettungswagen samt Besatzung eingespart werden, ist Dirk Lötschert überzeugt, der aktuell 116 Mitarbeiter im Rettungsdienst und Krankentransport beschäftigt. Er sagt: „Das würde vielleicht Stellen kosten. Aber andererseits: Wenn meine Sanitäter Taxi fahren wollten, wären sie schließlich ins Taxigewerbe gegangen.“

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort