Kontroverse über die Notwendigkeit von Operationen Kinderchirurg beklagt zu viele OPs

Bonn · Der Bonner Arzt Karl Becker ist überzeugt, dass zu viele junge Patienten operiert werden. Die Uniklinik weist den Vorwurf zurück, dass finanzielle Gründe die Behandlung bestimmen.

 Kinderchirurg Karl Becker sieht Probleme durch Fehlbehandlungen im Gesundheitswesen.

Kinderchirurg Karl Becker sieht Probleme durch Fehlbehandlungen im Gesundheitswesen.

Foto: Martin Wein

Die kinderchirurgische Praxis in der Prinz-Albrecht-Straße liegt noch verlassen im Morgenlicht. Doch der Kinderchirurg Karl Becker ist trotz leichter Erkältung extra früh gekommen. Das Gespräch ist ihm ein Anliegen. Wartezeiten für Facharzttermine, über die der GA kürzlich ausführlich berichtete, seien in der aktuellen Gesundheitslandschaft ein eher zweitrangiges Problem, findet der Mediziner. Er sagt: „Das eigentliche Problem ist die durch falsche Anreize des Systems begünstigte Fehlversorgung.“

Als Beckers Vorgänger Willi Farwick 1993 die Praxis gründete, betrat er mit ambulanten Operationen für Kinder Neuland in Bonn. „Vorher mussten die Kinder oft für vier bis sechs Tage ins Krankenhaus.“ Für die Kinder sei die ambulante Versorgung in vielen Fällen angenehmer und weniger mit Ängsten verbunden – und für das Versicherungssystem zudem günstiger. Erst in den Folgejahren hätten Kliniken in Bonn und der Region mit eigenen ambulanten Versorgungszentren nachgezogen.

Die Abrechnung nach Fallpauschalen begünstigt nach Beckers Überzeugung operative Eingriffe gegenüber konservativen Therapien. „Es wird viel operiert – oft mit zweifelhaftem Nutzen“, sagt er und hat dafür ein konkretes Beispiel: Immer wieder würden Jungen mit einem sogenannten Pendelhoden operiert. Der Hoden ist von Natur aus mit einem Muskelmantel umgeben, der den Hoden bis in die Leiste ziehen kann. Gerade im Windelalter ist dann oft das Hodensäckchen leer.

Eltern sollten eine Zweitmeinung einholen

„Allerdings ist das bei Kindern in der Regel eine natürliche Reaktion auf Gefahr oder Kälte“, erklärt Becker. „Wer einen Patienten dann mit kalten Fingern oder mit dem Ultraschall untersucht, der hat sofort eine OP-Indikation“. Und die Eltern stimmen aus Angst vor Unfruchtbarkeit oder Entartung des Hodens zu. Ob aus mangelndem Wissen um diese Zusammenhänge oder aus Profitinteresse – jedenfalls kämen viel zu viele junge Patienten auf den OP-Tisch, meint er.

Auch Unfallchirurgen würden junge Patienten bisweilen „mit einem ganzen Werkzeugkasten an Metall“ versorgen, wo bei einem Bruch im jungen Körper vielleicht auch zwei Schrauben gereicht hätten. Operationen am Knie seien bei Kindern noch heikler als bei Erwachsenen. „Manchmal lässt man besser die Finger davon und probiert es erst mal mit Geduld“, sagt Becker. Es sei ein wichtiger Aspekt des Berufs, die eigenen Grenzen zu kennen und ein Netzwerk von Fachleuten in der Hinterhand zu wissen. „Konkurrenzdenken zwischen Fachdisziplinen oder niedergelassenen Ärzten und Kliniken ist da wenig förderlich“, findet er. Eltern sollten eine Zweitmeinung von einem finanziell Unbeteiligten einholen.

An der Universitätsklinik Bonn widersprechen Kollegen Beckers Einschätzungen: Finanzielle Überlegungen spielten bei der Therapiewahl keine Rolle, sagt Guido Fechner, Oberarzt der Klinik und Poliklinik für Urologie und Kinderurologie: „Die Indikationsstellung erfolgt bei allen Patienten ausschließlich und stets nach medizinischen Kriterien.“ Klinikdirektor Stefan C. Müller wird sogar noch deutlicher: Es sei „eine unglaubliche, ja fast schon infame Unterstellung zu behaupten, dass gerade bei Kindern ärztliche Moral und berufliches Ethos kommerziellen Interessen geopfert“ würden.

Auswahl des Ärztenachwuchses ist ein Problem

In den vergangenen Jahren seien die Leitlinien zur Behandlung des Pendelhodens neueren Erkenntnissen angepasst worden. Um die spätere Zeugungsfähigkeit zu erhalten, sollten nicht in den Hodensack abgestiegene Hoden bis zum Ende des ersten Lebensjahres operativ verlagert sein.

Es sei eine „fatale Fehleinschätzung“ von Haus- und Kinderärzten, dass sich das Problem im pubertären Hormonschub schon lösen werde, erklärt Klinikdirektor Müller.

Aus Sicht von Kinderchirurg Becker ist die Auswahl des Ärztenachwuchses ein Problem für eine empathische Medizin, die den Patienten und nicht seine organischen Beschwerden in den Mittelpunkt stellt: „Es zählt allein der Notendurchschnitt. Damit bekommt man aber nicht unbedingt Menschen, die Kranken wirklich helfen wollen, in den Arztberuf.“ Der Praktiker wünscht sich neben guten Noten, dass angehende Mediziner ihre Bereitschaft zu helfen schon vor Studienbeginn unter Beweis stellen. „Man sollte alle vor dem Studium für ein Jahr ins Krankenhaus holen, um zu sehen, wie sie mit Menschen umgehen und sich im Medizinbetrieb verhalten“, wünscht er sich.

Aus dem Wartezimmer sind inzwischen Kinderstimmen zu hören. Becker muss zum ersten Termin. Nicht alle, die dort sitzen, wird er auch operieren.

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