Prozess gegen Walid S. Im Fall Niklas werden die Plädoyers mit Spannung erwartet

Bonn · Mit Spannung werden im Fall um den gewaltsamen Tod von Niklas Pöhler am Dienstag die Plädoyers erwartet. Nach 16 Verhandlungstagen sind rund um die Anklage gegen den mutmaßlichen Täter Walid S. noch viele Fragen offen.

Am Dienstag werden im Fall Niklas Pöhler nach 16 Verhandlungstagen die Plädoyers gehalten. Am 3. Mai soll dann das Urteil fallen. Die Wahrheit, so heißt es eigentlich, kommt ans Licht. Doch wird sie das auch im Fall des am 7. Mai 2016 in Bad Godesberg gewaltsam zu Tode gekommenen Niklas Pöhler?

Im Prozess gegen Walid S., der den Schüler aus Bad Breisig nachts gegen 0.20 Uhr mit einem Faustschlag gegen den Kopf so schwer verletzt haben soll, dass der 17-Jährige sechs Tage später starb, scheint das Bonner Jugendschwurgericht von der Wahrheit weiter entfernt denn je. Und dass sich Niklas' Mutters Hoffnung erfüllt, die Wahrheit über den Tod ihres Sohnes zu erfahren und zu erleben, dass der oder die wahren Täter ihre gerechte Strafe erhalten, scheint immer unwahrscheinlicher.

Tag für Tag nahm die 47-jährige Denise Pöhler bisher an der Seite ihres Anwalts als Nebenklägerin am Prozess teil, folgte mit höchster Konzentration dem Gang des Verfahrens, notierte jede Aussage. Und ist inzwischen sichtlich mitgenommen von dem, was sie gehört und gesehen hat. „Das ist ja alles nicht zu fassen“, erklärte sie vergangene Woche. Denn die Säulen, auf die sich die Anklage gegen Walid S. stützt, wirken zunehmend brüchiger in einem Fall, der weit über Bonn hinaus Bedeutung erhalten hat.

Der Fall Niklas Pöhler schlug von Anfang an hohe Wellen und stand bundesweit unter medialer Beobachtung angesichts der zunehmenden Jugendgewalt nicht nur in Bad Godesberg. Die Rufe nach Lösungen an die Politik wurden laut, nicht nur innerstädtisch. Landespolitiker reisten an, runde Tische entstanden. Und die Ermittler gerieten bei ihrer Suche nach den Tätern immer stärker unter Erfolgsdruck.

Tatsächlich wurde zehn Tage nach der Tat der erste Fahndungserfolg gemeldet: Der damals noch 20-jährige Walid S., ein als gewalttätig bekannter Heranwachsender mit Migrationshintergrund, wurde als Täter präsentiert, in U-Haft gesteckt und schließlich zusammen mit dem mutmaßlichen zweiten Täter Roman W. angeklagt. Letzterer soll an der für Niklas tödlichen Schlägerei beteiligt gewesen sein und überdies einer Begleiterin von Niklas mit der Faust gegen den Kopf geschlagen haben. Die Staatsanwaltschaft war überzeugt, zwei der an der Attacke beteiligten Täter überführt zu haben. Der dritte ist bis heute unbekannt.

Doch dass diese Überzeugung der Staatsanwaltschaft ausreicht, scheint inzwischen allen Beobachtern des Prozesses immer zweifelhafter – eines Prozesses, der viele Zuschauer anlockt und durch strenge Sicherheitsmaßnahmen geschützt wird. Denn die drei vermeintlich stabilen Säulen der Anklage haben erkennbar im Verlauf des Verfahrens an Standfestigkeit eingebüßt: Niklas' Freund und Augenzeuge der Tat will Walid S. auf einem Foto und schließlich auch im Gerichtssaal wiedererkannt haben. Doch wie sich herausstellte, hatte er zuvor bereits zwei andere als Täter erkannt, die es nicht gewesen sein können.

Soll Fall unter allen Umständen gerettet werden?

Auch wurde im Prozess offenbar, dass er Walid S. auf einer Reihe von Fotos, die ihm zuvor schon von der Polizei gezeigt worden waren, nicht erkannt hatte. Erst nachdem in seinem und Niklas' Freundeskreis ständig Fotos vom möglichen Täter kursierten, erkannte er Walid S. als Täter – auf einem Foto, auf dem Walid S. sich selbst am wenigsten ähnelt. Dafür aber dem 22-jährigen Tunesier Hakim D., dessen Name in der Bad Godesberger Szene von Anfang an als Täter gehandelt wurde. Und dem die Jacke mit Niklas' Blut gehört, die bei Walid S. nach dessen Festnahme gefunden wurde.

Dass Walid S. diese Jacke erst nach der Tat auf verwickelten Wegen erhalten haben will, glaubten ihm die Ermittler nicht, obwohl Zeugen die Geschichte bestätigten. Für den Ankläger stand fest: Walid S. ist der Täter, denn er hat nicht die Wahrheit gesagt über die Zeit, in der er in jener Nacht mit einem Freund an der Tankstelle war, um Getränkenachschub für die Clique zu besorgen, mit der er sich ansonsten ununterbrochen im Kurpark am Ententeich aufgehalten haben will. Tatsächlich, so ermittelte die Polizei, ist Walid S.' Handy in der Nacht an einem Sendemast für den Kurpark und einem anderen für die Tankstelle eingeloggt, zu keinem Zeitpunkt aber am Tatort am Rondell, wo ihn auch niemand sah.

Gesehen aber wurden in Tatort- und Tatzeitnähe Roman W. und besagter Hakim D. von vier Zeugen. Einer dieser Zeugen, ein 26-Jähriger, schilderte vor Gericht, die beiden seien ihm auf seinem Weg in Richtung Rondell auf der Rheinallee entgegengeeilt, und Roman habe sie gewarnt: „Geht nicht dorthin, da kommt gleich die Polizei.“ Und eben diesen 26-Jährigen benannte plötzlich eine Überraschungszeugin als Augenzeugen der Tat: Er habe ihr erklärt, Hakim D., Roman W. und zwei weitere Bekannte bei der Attacke beobachtet zu haben. Das habe er vor Gericht nicht gesagt, weil Hakim ihm mit einem Schuss zwischen die Augen gedroht habe.

Nach ihrer Aussage ordnete das Gericht an, den 26-Jährigen und dessen drei Begleiter am folgenden Prozesstag erneut in den Zeugenstand zu rufen. Doch was dann passierte, sorgte nicht nur für Befremden bei Beobachtern des Prozesses, sondern auch in Justizkreisen: Staatsanwalt Florian Geßler kam dem Gericht zuvor und vernahm die fraglichen Zeugen erst einmal selbst.

Als alle bei ihren Aussagen blieben und der 26-Jährige weiter bestritt, Tat und Täter gesehen zu haben, wartete der Ankläger nicht etwa den Ausgang des Verfahrens ab. Sondern er leitete unverzüglich gegen die Überraschungszeugin ein Verfahren wegen Falschaussage vor Gericht ein. Und erklärte am Rande des Prozesses: „Die Ermittlungen gegen Hakim D. kann ich jetzt ja einstellen.“ Und es drängte sich die Frage auf: Soll hier auf Biegen und Brechen ein Fall gerettet werden?

Gericht hat keine Mittel mehr

Nach 16 Verhandlungstagen schloss das Gericht vergangene Woche die Beweisaufnahme, denn es hat keine Mittel mehr, die bei der Wahrheitssuche helfen könnten. Walid S. beteuerte noch einmal, nichts mit der Attacke auf Niklas zu tun zu haben. Was also ist die Wahrheit?

Rund 50 Zeugen hat das Gericht vernommen, zur Klärung konnte keiner wirklich beitragen. Und es hat sich erneut gezeigt: Der Zeuge ist das schlechteste, weil unzuverlässigste Beweismittel: Erinnerungen können trügen, Schocksituationen wie die Attacke in jener Nacht die Gedächtnisleistung aushebeln – was wohl auch ein Grund dafür ist, dass beide Begleiterinnen von Niklas sich den Täter nicht einprägen und somit nicht wiedererkennen konnten.

Walid wird in diesem Prozess nicht nur die Gewalt gegen Niklas angelastet, sondern noch weitere Gewalttaten, die er eine Woche zuvor begangen hatte. Ihm wäre also auch der Angriff auf Niklas zuzutrauen. Aber das macht ihn in dem Fall noch nicht zum Täter. Am 25. April wird Niklas' Mutter wieder ganz genau zuhören, wenn Staatsanwalt und Verteidiger in ihren Schlussvorträgen schildern, was ihrer Überzeugung nach in jener Nacht geschehen ist.

Friedrich Nietzsche zufolge sind allerdings Überzeugungen die gefährlicheren Feinde der Wahrheit als die Lüge. Sollte das Gericht am 3. Mai Walid S. für nicht schuldig befinden, hätte der inzwischen 21-Jährige fast ein Jahr im Gefängnis gesessen für eine Tat, die vielleicht ein anderer begangen hat.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort