Erschütternde LVR-Studie "Gestörte Kindheiten" in Bonner Kinderpsychiatrie

Bonn · Der Landschaftsverband Rheinland (LVR) hat seine Studie über dunkles Kapitel der Kinderpsychiatrie in seinen Kliniken vorgestellt – und sich bei den Opfern entschuldigt.

 Therapieren hieß für Jungen und Mädchen in den psychiatrischen Kliniken nach dem Krieg ruhigstellen und bestrafen.

Therapieren hieß für Jungen und Mädchen in den psychiatrischen Kliniken nach dem Krieg ruhigstellen und bestrafen.

Foto: LVR-Klinik

Da hielt das Publikum bei der Buchpräsentation in der Bonner Klinik des Landschaftsverbands Rheinland (LVR) den Atem an: Silke Fehlemann und Frank Sparing vom Institut für Geschichte der Medizin der Universität Düsseldorf hatten am Donnerstagabend gerade ihre erschütternde Studie über die düstere Vergangenheit der Kinder- und Jugendpsychiatrie nach 1945 vorgestellt, da übernahm LVR-Direktorin Ulrike Lubek für den Verband ohne Wenn und Aber die Verantwortung für das Geschehene.

„Ich möchte mich bei den Betroffenen aus tiefster Seele für das schuldhafte Handeln von Mitarbeitern des LVR entschuldigen“, sagte Lubek. Jede Zeit müsse aus sich heraus verstanden werden. Aber es sei ein Armutszeugnis für den LVR, wie hilflosen Kindern und Jugendlichen Unrecht getan wurde, das nun endlich anerkannt werde. „Für uns heißt das, dass wir an Haltung und Bewusstsein weiterarbeiten müssen. Uns ist dieses dunkle Kapitel der Verbandsgeschichte Warnung.“ Und zwar aktuell auch für jene, die für die Verteilung von Ressourcen verantwortlich seien.

Zahlreiche Opfer von traumatisierender Gewalt

Im Auftrag des LVR hatten Fehlemann und Sparing mithilfe der LVR-Quellen mehr als zwei Jahre lang untersucht, wie Heranwachsende von 1945 bis 1975 in psychiatrischen Einrichtungen wie der Bonner Klinik „gestörte Kindheiten“, so der Buchtitel, verbrachten. Unter 200.000 Minderjährigen, die nach 1945, von Hitler-Diktatur und Krieg gezeichnet, in Heime abgeschoben waren, habe es in der Enge der Einrichtungen zahlreiche Opfer von traumatisierender Gewalt gegeben.

Täter gab es unter dem überforderten, noch von der Nazi-Psychiatrie geprägten Personal, aber auch unter kriegsgeschädigten Kindern selbst. Dem habe man durch einen massenhaften Einsatz von Psychopharmaka, also letztlich durch eine „kollektive Vergiftung“ der Kinder, Herr werden wollen. „Schon Drei- bis Neunjährige wurden ruhiggestellt und bestraft“, sagte Sparing. Höllische Angst hätten die Kinder vor dem dauernden Einsatz der Pneumenzephalographie gehabt, einem brutalen Eingriff, bei dem Hirnflüssigkeit abgelassen und Luft in den Schädelraum gefüllt wurde.

Bis in die 1950er Jahre war die Rheinische Landesklinik in Bonn bundesweit als einzige selbstständige Klinik auch Durchlaufstation gewesen: Das heißt, die in Bonn getroffenen Diagnosen hatten das Schicksal unzähliger Kinder bestimmt. „Und das mit einem nur defizitären Blick auf den Einzelnen, ohne dass traumatische Erfahrungen in Familie und Krieg einbezogen wurden“, erläuterte Nils Löffelbein, Medizinhistoriker der Uni Düsseldorf.

Hilfsfond-Projekte für Heimkinder laufen aus

Jugendliche, denen man heute lediglich pubertäre Störungen bescheinigen würde, seien damals als „Schwachsinnige“, als Psychopaten, in die Mühlen einer erschreckenden Maschinerie geraten. Eine moderne ressourcenorientierte Kinder- und Jugendpsychiatrie habe sich erst ab den 1970er Jahren durchgesetzt, berichteten die LVR-Fachfrauen Margret Schulz und Astrid Natus-Can.

„Umso wichtiger ist es heute, sich unserer Geschichte zu stellen“, sagte Kulturdezernentin Milena Karabaic. Es seien weitere Spezialstudien im Auftrag. Und was haben die in den LVR-Einrichtungen geschädigten Kinder von damals heute an Hilfen zu erwarten? LVR-Jugenddezernent Lorenz Bahr verwies auf die Beratungsarbeit des Verbands und die entsprechenden Hilfsfond-Projekte für Heimkinder, die aber leider demnächst ausliefen. Der LVR hoffe deshalb auf das geplante Sozial- und Entschädigungsgesetz, das möglichst bald aus der Schublade geholt werden möge.

„Gestörte Kindheiten. Lebensverhältnisse von Kindern und Jugendlichen in psychiatrischen Einrichtungen des LVR (1945-1975)“, Silke Fehlemann, Frank Sparing, Metropol Verlag, 19 Euro; herausgegeben im Auftrag des Landschaftsverbands Rheinland.

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