Das umstrittene Weisungsrecht an Staatsanwälte Der Staat, die Justiz und ein preußisches Relikt

Bonn · Wenn Deutschland sich heute um einen EU-Beitritt bewerben müsste, gäbe es ein Problem, denn die EU verlangt inzwischen unabhängige Ermittler.

Vergangene Woche wartete Die Zeit mit einem dreiseitigen Dossier über das fragile Verhältnis zwischen Politik und Justiz auf – am Beispiel des 2015 geschassten Generalbundesanwalts Harald Range. Dessen Behörde hatte Mitte Mai 2015 Ermittlungen gegen zwei Blogger der Internetseite netzpolitik.org wegen des Verdachts des Landesverrats aufgenommen.

Der Verrat von Staatsgeheimnissen ist auch Medien verboten und wird mit Freiheitsstrafe geahndet. Bis zum 4. August nahm die Öffentlichkeit davon kaum Notiz. Aber an diesem Tag trat Range vor die TV-Kameras und sagte: „Auf Ermittlungen Einfluss zu nehmen, weil deren mögliches Ergebnis politisch nicht opportun erscheint, ist ein unerträglicher Eingriff in die Unabhängigkeit der Justiz.“ Da ging es hoch her, und das Publikum rätselte: Ist die Pressefreiheit in Gefahr? Dürfen Minister Staatsanwälte anweisen?

Range berichtete an diesem 4. August 2015 von einem Gutachten, dass er in Auftrag gegeben hatte, um alle Zweifel auszuräumen: Es handele sich bei der Veröffentlichung der Internet-Blogger eindeutig um den Verrat eines Staatsgeheimnisses, der geeignet sei, Terroristen Informationen über die staatliche Cyber-Abwehr an die Hand zu geben. Wenig später trat Bundesjustizminister Heiko Maas (SPD) in Berlin vor die Kameras und teilte mit, sein Vertrauen in den Generalbundesanwalt sei „nachhaltig gestört“, er werde deshalb Ranges Versetzung in den Ruhestand „noch heute beantragen“. Die Zeit versichert nun, über Dokumente zu verfügen, die belegen, dass Range im Vorfeld massiv angewiesen wurde, seine Ermittlungen einzustellen und das Gutachten zurückzuziehen. Bei Zuwiderhandlung drohe ihm der Rausschmiss. Vielleicht fürchtete Maas den Shitstorm der Netzgemeinde, die es mit Recht und Gesetz nicht immer so genau nimmt, heißt es in Justizkreisen.

Zu blauäugig ist offenbar die Vorstellung, dass in einem Rechtsstaat beim begründeten Verdacht einer Straftat ein Automatismus anspringt: Ermittlungen, dann Einstellung oder Anklage, die in einen Prozess mündet, der dann mit Freispruch oder Verurteilung endet. Die Realität sieht anders aus: Bis in den demokratischen Rechtsstaat des 21. Jahrhunderts wirkt der während der preußischen Monarchie 1879 geborene Paragraf 146 des Gerichtsverfassungsgesetzes: „Die Beamten der Staatsanwaltschaft haben den dienstlichen Anweisungen ihres Vorgesetzten nachzukommen.“ Also auch den Anweisungen eines Justizministers. Kann ein Staatsanwalt objektiv und „ohne Ansehen einer Person“ ermitteln, wenn die Anweisung möglicherweise „Akte schließen!“ lautet?

Wenn dies geschieht, dann meist auf Landesebene. Die dazugehörige Hackordnung: Landesjustizminister, Generalstaatsanwalt, leitender Oberstaatsanwalt, Abteilungsleiter, Staatsanwalt. Dass dies geschieht, weisen die Justizminister stets von sich. Es wäre auch kaum zu beweisen, denn schriftlich erfolgt eine solche Weisung nie. Auch im Fall Range bat der Generalbundesanwalt vergeblich um die Schriftform. Die Welt beschrieb einmal, wie es funktioniert: „Die Instrumente heißen Dienstbesprechung, Prüfbitte, Empfehlung, Vereinbarung.“ Widersetzt sich ein Staatsanwalt und „remonstriert“, indem er seinem Vorgesetzten widerspricht, riskiert er seine Versetzung und die Aussicht auf die nächste Beförderung. Aber auch vorauseilender Gehorsam kann zum ernsten Problem für die Rechtsstaatlichkeit werden. Nur: Wenn die Justizminister das Weisungsrecht angeblich nie anwenden – warum wird es dann seit Jahrzehnten hartnäckig verteidigt?

Das Weisungsrecht hat im Machtspiel parteipolitischer Interessen eine weitere Schwachstelle: „Von oben“ könnte zum Beispiel angeordnet werden, gegen Politiker anderer Parteien eine Spur intensiver zu ermitteln. Wie dies offenbar in der Causa Gysi der Fall war: Nach Recherchen von NDR und Süddeutscher Zeitung wollte der Hamburger Generalstaatsanwalt eine Anklage gegen den Politiker Gregor Gysi per Weisung erzwingen, nachdem der zuständige Staatsanwalt wegen rechtlicher Bedenken abgewinkt hatte.

Auf eine andere Schwachstelle des Weisungsrechts wies Christoph Frank, ehemaliger Vorsitzender des Deutschen Richterbundes (DRB), hin: „Allein der Verdacht, die Ermittler könnten von denen, die politisch das Sagen haben, gesteuert werden, beschädigt das Ansehen von Staatsanwaltschaft und Justiz.“ Der DRB, der rund 16.000 Richter und Staatsanwälte vertritt, fordert seit Jahrzehnten eine Reform des preußischen Erbes. Vor 14 Jahren scheiterte der letzte Reformversuch: 2003 machte das „Dresdner Plädoyer“ auf ein neues Risiko aufmerksam. „Gegenwärtig läuft die Staatsanwaltschaft Gefahr, den Kampf gegen die Wirtschafts- und auch organisierte Kriminalität – und damit meinen wir auch immer wieder auftretende Fälle von Kriminalität durch oder mit Duldung der Politik – auf Dauer zu verlieren.“

Das übrige Europa ist längst aufgewacht. Italien reformierte 1992: Seitdem gibt es eine effektive strafrechtliche Verfolgung der Mafia, die bis dato mit Teilen der Politik unter einer Decke steckte. Auch in Frankreich wurde das Weisungsrecht für Staatsanwälte ad acta gelegt. Deren Unabhängigkeit verlangt als Demokratie-Standard inzwischen auch die EU. Verblüffende Erkenntnis: Würde Deutschland sich heute um einen EU-Beitritt bewerben, hätten Merkel & Co. ein Problem. Sie müssten erst einmal eine Justizreform umsetzen. Die sollte dann gleich auch das Richter-Beförderungsrecht ändern. Wer was wird und wer warum nicht, bestimmt die deutsche Politik bis heute. Vom preußischen Justizminister Adolph Leonhardt ist der Satz überliefert: „So lange ich Richter befördere, konzediere ich ihnen gerne ihre sogenannte Unabhängigkeit.“

Am Morgen des 10. März 2016 betritt Richter Jan Robert von Renesse den Gerichtssaal 1.120 im Landgericht Düsseldorf. Der schwerste Gang seines Berufslebens. Denn er nimmt nicht hinter der Richtertheke Platz, sondern auf der Anklagebank. Die NRW-Landesregierung hat ein Disziplinarverfahren gegen Renesse angestrengt – wegen „Rufschädigung der Sozialgerichtsbarkeit“. Doch in Wahrheit geht es um mehr. Um die Frage, wie unabhängig ein Richter sein darf. 2002 verabschiedete der Bundestag einstimmig das Gesetz zur „Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto“. Holocaust-Überlebende, die während des Krieges in Ghettos arbeiteten, konnten nun eine Rente beantragen. Rund 88 000 Anträge aus aller Welt gingen bei der Rentenkasse ein. Die Überlebenden erhielten komplizierte Fragebögen, sollten den Namen der Arbeitsstelle benennen, Arbeitszeiten angeben, die Namen von Vorgesetzten. Nach mehr als 60 Jahren. Aus verfolgungsbedingter Beweisnot konnten viele nur die auf ihrem Arm eintätowierte KZ-Nummer vorweisen.

93 Prozent der Anträge wurden abgelehnt. In der Folge klagten viele Überlebende gegen die Entscheidung der Rentenkasse – einige Fälle landeten bei Jan Robert von Renesse, Richter am Landessozialgericht NRW in Essen. Er hängte sich rein und recherchierte jeden Fall akribisch. Am Ende sah Renesse in etwa 60 Prozent der Fälle die Rente begründet und scherte damit aus der Spruchpraxis seiner Kollegen aus.

Die Rentenversicherung Rheinland lud daraufhin alle Richter ein: Ein halbes Jahr lang sollen sie bitte keine anhängigen Verfahren mehr verhandeln. Renesse weigerte sich. Und erhielt einen Vermerk in seiner Personalakte. 2010 wurde er von den sogenannten Ghetto-Fällen abgezogen und versetzt.

2012 richtete Renesse eine Petition an den Bundestag, um für die Zwangsarbeiter Nachbesserungen des Gesetzes zu erzielen. Die Petition hatte Erfolg. Daraufhin leitete NRW-Justizminister Thomas Kutschaty (SPD) ein Disziplinarverfahren ein. Selbst Proteste aus Israel konnten dies nicht verhindern. Das Verfahren wurde am 13. September 2016 eingestellt – nach außergerichtlicher Einigung, über die Stillschweigen vereinbart wurde. (ga)

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