Überlebender eines Weltkriegs-Massakers besucht Friedrich-Ebert-Gymasium "Den Hass nicht kultivieren"

Bonn · "Es ist, als ob einem der Himmel auf den Kopf fällt", sagt Serge Martin. Am 25. August 1944 haben Deutsche seinen Vater René Henri, seine Mutter Renée Marie sowie seine Geschwister Raymond (9) und Josiane Simone (5) ermordet.

 Serge Martin (Mitte) spricht im Friedrich-Ebert-Gymnasium über das Massaker von Maillé.

Serge Martin (Mitte) spricht im Friedrich-Ebert-Gymnasium über das Massaker von Maillé.

Foto: Martin Wein

Die erst sechs Monate alte Danielle Lucette töteten sie mit einem Schuss ins Kinn - und erschossen ohne Umschweife 119 weitere Bewohner des französischen Dorfes Maillé an der Loire. Die Täter wurden weder ermittelt noch belangt.

Erstmals ist Serge Martin jetzt auf Einladung der Friedrich-Ebert-Stiftung nach Deutschland gereist, um über sein Schicksal zu berichten und über das zweitgrößte Kriegsverbrechen deutscher Truppen an französischen Zivilisten im Zweiten Weltkrieg.

Zwei Tage nach dem Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus ist der 84-Jährige am Montag zu Gast bei den bilingualen Oberstufenkursen im Friedrich-Ebert-Gymnasium (FEG). Auch Schüler aus Montabaur sind zu Gast. Der Franzose freut sich, dass so viele Jugendliche seine Sprache sprechen.

Was Martin zugestoßen ist, wurde erst vor einem Jahrzehnt durch eine Ausstellung und einen Dokumentarfilm überhaupt publik. "Die französische Justiz hat die Aufklärung verschleppt", sagt Romain Taillefait, der Leiter der Gedenkstätte, die man inzwischen eingerichtet hat. Der 25. August 1944 wird vor allem als Tag der Befreiung von Paris gefeiert.

Die Überlebenden selbst hätten aus Respekt für die Trauer der anderen untereinander geschwiegen, sagt Martin: "Man versucht, normal zu leben, aber es geht nicht". Serge, der älteste Sohn der Martins, verdankt sein Leben einem schlichten Zufall. Der Zehnjährige verbrachte seine Ferien damals bei den Großeltern. Nach den Recherchen der Filmproduzenten gründete er mit einem Jugendfreund einen Verein gegen das Vergessen.

"Wir sind sehr froh, dass wir auch dieses dunkle Kapitel in der deutsch-französischen Geschichte nun authentisch beleuchten können", sagt Fachlehrerin Antje Goos-Loy vom FEG.

Der Film, der die Geschehnisse wieder ans Licht brachte, zeigt den Schülern ein propperes Dorf an der Bahnstrecke Paris - Bordeaux, 50 Kilometer südlich von Tours. Die Amerikaner standen schon nördlich an der Loire, als rund 25 Deutsche am Abend ins Dorf marschierten. Nur wenige Bewohner versteckten sich. Seit Beginn der Besatzung waren etwa auf dem Hof der Martins Offiziere einquartiert. "Sie haben uns nicht gestört", erinnert sich der damals Zehnjährige.

Doch an diesem Abend ist es anders. Die Besatzer kesseln das Dorf ein, schießen auf jeden Bewohner, werfen Granaten in die Häuser. Auch der Hof der Martins brennt ab. Als Serge Martin später die Ruine sieht, kann er das Geschehene nicht begreifen.

"Natürlich frage ich mich bis heute ständig: Warum unser Dorf?", sagt der Zeitzeuge gefasst. Er hat seine Geschichte vor Ort schon oft erzählt. Es war wohl Rache für einen Sabotageakt französischer Widerstandskämpfer in der Nacht zuvor, vermuten Historiker - oder eine Machtdemonstration, glaubt Taillefait.

"Neben einer SS-Einheit waren auch Wehrmachtssoldaten beteiligt", ist sich der Historiker Friedhelm Boll sicher, der das Gespräch mit den Schülern leitet. Die Täter werde man nicht mehr finden. Die Staatsanwaltschaft Dortmund hat eine neuerliche Untersuchung fast genau vor einem Jahr ohne Ergebnis eingestellt.

Ob die Täter nicht viel früher hätten gesucht werden müssen, wollen die Jugendlichen in der sehr ernsthaften Diskussion wissen. Wie Martin es zu Besuch im Land der Täter aushalte? "Eure Generation war es nicht", sagt der alte Herr bestimmt und im Unterschied zu anderen Überlebenden aus dem Dorf. Und ergänzt: "Wir sollten den Hass nicht kultivieren."

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