Nach 70 Jahren Ungewissheit Bonnerin findet Grab des verschollenen Vaters

Bonn · Eine Bonnerin hat nach 70 Jahren das Grab ihres verschollenen Vaters gefunden, der 1944 im Zweiten Weltkrieg fiel. Ein „Kriegskindertrauma“ ging damit zu Ende.

 Karin Harms musste lange nach ihrem 1944 gefallenen Vater suchen, nun hat sie Gewissheit und die Erkennungsmarke.

Karin Harms musste lange nach ihrem 1944 gefallenen Vater suchen, nun hat sie Gewissheit und die Erkennungsmarke.

Foto: Axel Vogel

Matt glänzend liegt die kleine ovale Erkennungsmarke der Deutschen Wehrmacht auf dem Tisch. Karin Harms nimmt sie in die Hand und sagt ganz leise: „Wenn man überlegt, dass diese Marke meinem Vater an einer Kette um den Hals hing, als er starb...“. Das dünne Blech ist das einzige direkte Erinnerungsstück der 71-Jährigen an den Vater, der die im Kriegsjahr 1944 Geborene nie sah.

Lüneburg, die Einheit des damals 29-jährigen Karl Harms, steht auf der Marke in Kürzeln, dazu seine Blutgruppe A. Karin Harms hält die Marke nun fest in der Hand. Im Januar 2015 war ihr das auf dem Deutschen Friedhof in Chisinau in der heutigen Republik Moldawien gefundene Stück von der Deutschen Dienststelle für die Benachrichtigung der nächsten Angehörigen von Gefallenen des Zweiten Weltkriegs zugeschickt worden.

„Nach 70 Jahren Ungewissheit konnte ich damit endlich das Schicksal meines vermissten Vaters klären“, sagt sie. Und sie sieht glücklich dabei aus. Ein „Kriegskindertrauma“ war damit zu Ende gegangen. Und eine Familientragödie dazu, die die 71-Jährige nun erzählt, nachdem sie im GA über die ebenfalls nach vielen Jahrzehnten erfolgreiche Vatersuche von Anna Krämer gelesen hatte. „Das Schicksal dieses sogenannten Russenkinds hat mich sehr bewegt. Ich kann Frau Krämer nur zustimmen, dass diejenigen, die wie wir zur vergessenen Generation gehören, nicht aufgeben sollten, nach ihren im Zweiten Weltkrieg verschollenen Angehörigen zu suchen.“ Das hat schon mal Karin Harms Mutter bis zu ihrem Tod 2002 getan. Als junge Frau stand sie mit drei kleinen Kindern plötzlich alleine da.

„Unsere Mutter hat nie die Hoffnung aufgegeben, dass unser Vater einmal wiederkehren würde“, erzählt die 71-Jährige. Den Suchdienst des Roten Kreuzes befragte die Mutter regelmäßig. Sie sprach an allen sonst noch möglichen Stellen vor: Ihr Ehemann, der Russisch gelernt hatte, war ihrer Meinung nach irgendwo in der weiten Sowjetunion noch am Leben.

So war das Jahr 1955, als Bundeskanzler Konrad Adenauer die Kriegsgefangenen aus der Sowjetunion holen ließ und Karl Harms nicht dabei war, eine furchtbare Enttäuschung für die Ehefrau. 1976 schrieb das Rote Kreuz der Familie, dass der Ehemann und Vater „mit hoher Wahrscheinlichkeit“ zwischen dem 20. August und den ersten Septembertagen 1944 im damaligen Rumänien gefallen sei. Seine Division sei nach dem Durchbruch der Roten Armee bei Chisinau aufgerieben worden. „Und es gibt keinen Hinweis, dass der Verschollene in Gefangenschaft geriet.“ Was die Mutter jedoch nicht davon abhielt, weiter auf ihren Mann zu warten. „Ich vergesse die vielen Jahre nie, wie sie zu Heilig Abend oder zu anderen Familienfesten immer in Tränen ausbrach“, sagt Karin Harms.

Eine Alleinerziehende, noch dazu in materieller Not, war in den 1950er Jahren von vielem ausgeschlossen. Die Behörden weigerten sich, bei der Auszahlung für die Hinterbliebenen den höheren Rang des Soldaten anzuerkennen, obwohl in den Ämtern die Papiere über Karl Harms fehlten. Sie waren von den Sowjets konfisziert worden. Die Ehefrau hätte nachweisen müssen, dass ihr Ehemann Offiziersanwärter war, zitiert Harms aus einem im Jahr 1960 unverschämt formulierten Ablehnungsschreiben: Ohne Beleg gab es keine der Familie zustehenden Zahlungen. „Wir Kinder waren benachteiligt in allem, in der Schule, überall“, erinnert sich Harms. Zudem habe sie sich ohne väterlichen Beschützer nie vollständig gefühlt.

Nach dem Tod der Mutter nahm sie die Suche nach dem Vater selbst in die Hand. Mithilfe des Internets und weil Russland nach 1990 seine Archive endlich geöffnet hatte, kam sie weiter. Und dann zieht sie den letzten Brief des Karl Harms aus ihrem Aktenordner. Diesen Brief schrieb er am 14. August 1944 kurz vor dem Ansturm der Sowjets an die Familie, ein Papier, das schon die Mutter wie einen Schatz gehütet hatte. Inständig bittet Harms seine Frau darin, für das neu geborene Mädchen möglichst bald die Taufe im Schoß der gesamten Familie auszurichten. Sie wisse doch, es bestehe Urlaubssperre und er könne bis auf Weiteres nicht kommen. In den nächsten Tagen „geht es los“. Kein Soldat habe die Wahrheit schreiben dürfen, dass der sowjetische Angriff direkt bevorgestanden habe, erklärt die Tochter und starrt auf die so ordentlich geschriebenen Zeilen.

„Er hat sich damit von uns verabschiedet.“ Schweigen. Und dann zitiert sie noch die Frage des Vaters: „Denkst Du noch daran, wie schön es letzten Sommer war, als ich kurz zu dir kommen konnte?“ In dieser Nacht sei sie, die Wunschtochter des Karl Harms, gezeugt worden. Danach sah die Familie ihn nie wieder. Im Mai 1944 wurde die kleine Karin geboren. Ihre Mutter habe den scheidenden Ehemann in der Nacht vergeblich beschworen, doch zu desertieren und nicht mehr in den mörderischen Krieg zurückzugehen.

Harms zieht noch einmal die unscheinbare Blechmarke an sich heran. Ein für allemal war mit ihr 2015 bewiesen worden, dass der Vater wirklich im Frühherbst 1944 im heutigen Moldawien gefallen und später aus einer provisorischen Grabstätte auf den Deutschen Soldatenfriedhof von Chisinau neu gebettet worden war. „Damit habe ich endlich auf dem Soldatenfriedhof in Chisinau einen Ort zum Trauern erhalten. Und es beruhigt mich, dass mein Vater ein Haus für die ewige Ruhe gefunden hat.“

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