Sternenkinder Abschied vom Kind, bevor das Leben begonnen hat

Bonn · Leonie wurde am 10. August still geboren. Wegen schwerer Fehlbildungen entschieden sich die Eltern zum Abbruch der Schwangerschaft. Leonie ist ein Sternenkind.

Als Leonie auf die Welt kommt, schreit sie nicht. Sie bewegt sich nicht. Und obwohl ihre Eltern wussten, dass genau das passieren würde, war es die schmerzhafteste – und zugleich berührendste – Erfahrung ihres Lebens. Leonie, geboren am 10. August 2018. 542 Gramm schwer. 31,5 Zentimeter groß. 21,5 Zentimeter Kopfumfang. Ein Sternenkind. Sternenkinder – so bezeichnet man Neugeborene, die im Mutterleib, während der Geburt oder kurz danach versterben. Häufig sind es Frühgeburten. Sie erreichen den Himmel (die Sterne), meist bevor sie das Licht der Welt erblicken durften.

„Es war der Abbruch einer gewollten Schwangerschaft“, erzählt Franziska Krause (Namen von der Redaktion geändert). Bei einer Vorsorgeuntersuchung habe sich herausgestellt, dass der kleine Fötus eine zu große Harnblase hatte. „Bei 6,4 Zentimeter Größe hatte sie einen Durchmesser von einem Zentimeter“, erzählt Krauses Mann Michael Großbusch. Damals sah alles noch so aus, als könnte man es in den Griff bekommen. Ein Shunt wurde gesetzt, damit der Urin abfließen konnte. „Dann hat uns ein Arzt gesagt, dass die Auffälligkeit bei Jungs auch relativ harmlos sein kann, bei Mädchen meist nicht“, so Krause. Die Eltern waren einigermaßen beruhigt – und hatten das „Gefühl, dass alles rechtzeitig gefunden wurde“.

Doch das stellte sich als ein Irrtum heraus. Bei der nächsten Untersuchung fiel auf, dass das Kind rechts ein Klumpfüßchen hatte. „Dann haben wir uns schon gedacht, dass es mehr werden könnte“, sagt der 36-Jährige. Ein Kinderchirurg aus Köln sprach dann einfühlsamen Klartext: Würde das Kind ein Mädchen werden, werde es weitere Fehlbildungen geben. „Er sagte, das Kind würde zu 96 Prozent eine sogenannte Kloaken-Fehlbildung haben.“ Dies bedeute, dass Anus, Scheide und Harnröhre nur einen Ausgang haben. In besonders schweren Fällen gibt es überhaupt keine Körperöffnungen im Unterleib. So wie bei Leonie.

Unendlich schwere Entscheidung

Das aber wussten Krause und Großbusch zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Es folgten weitere Hiobsbotschaften: Verdacht auf offenen Rücken, schlecht ausgebildete Nieren. Ein Leben voller Arztbesuche, Operationen, Krankenhausaufenthalten und eventueller Dialyse wollten die Eltern ihrem Kind nicht zumuten. Dennoch fiel die Entscheidung unendlich schwer. „Es war schrecklich“, sagt Krause. Gespräche mit Ärzten, Pro Familia und Selbsthilfegruppen folgten. Und doch musste die Entscheidung allein getroffen werden. „Wir mussten über Leben und Tod unseres Kindes entscheiden“, sagt die 35-Jährige und kämpft mit den Tränen. Ihr Mann greift immer wieder nach ihrer Hand, lacht ein trauriges Lachen. Die beiden umarmen sich, sind kurz nur beieinander. Und wirken in ihrer Trauer gemeinsam auf gewisse Weise stark.

In der 24. Schwangerschaftswoche mussten sie sich von Leonie verabschieden. In der Bonner Uniklink wurde der Fötus abgetötet, anschließend wurde die Geburt eingeleitet. „Am Geburtstag war es irgendwie versöhnlich. Die Geburt, der Sternenkind-Fotograf. Da fühlte es sich friedlich an“, beschreibt Großbusch. „Es war so wichtig, Leonie anzufassen, sie anzugucken.“ Ein ganz wichtiger Aspekt seien auch die Fotos, ergänzt die 35-Jährige. „Sie bedeuten ganz viel. Trost. Erinnerung. Und sie sind ein Beweis, dass es sie wirklich gab.“

Traumatisches Erlebnis

Was bleibt, ist nicht nur Trauer. Es bleibt auch das Gefühl, schuldig zu sein. Wie sie in Selbsthilfegruppen erfahren habe, sei dies aber auch bei Eltern der Fall, die ihre Kinder auf natürlichem Wege verloren haben. Irgendwann will das Paar weitere Kinder haben. Aber noch ist nicht die Zeit, sind sich beide sicher. „Im Moment ist es Leonies Raum. Sie muss ausreichend gewürdigt werden“, so Krause. Man müsse das traumatische Erlebnis erst verarbeiten, um den Weg für andere Kinder frei zu machen – sie sollen nicht im Schatten der großen Schwester stehen. Und sie sollen auch nicht den Eindruck haben, diese ersetzen zu müssen. Aber, egal was passiert: „Leonie bleibt immer unser erstes Kind.“

Sie begleitet sie jeden Tag. Richtig schwer wird es am 2. Dezember, sind sich beide sicher. Dem Tag, an dem Leonie eigentlich zur Welt kommen sollte. Und auch Weihnachten wird eine Herausforderung. Aber: „Trauer und Liebe sind zwei Seiten einer Medaille“, sagt Krause. „Wird die Trauer weniger, wird die Liebe stärker.“

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