Bundeskunsthalle in Bonn Die Rechenkünstlerin

Bonn · Die Zahl des Tages lautet 26, folgt man der Rechnung der Grand Dame der Konzeptkunst Hanne Darboven (1941-2009): Es ist die Quersumme aus dem Datum des heutigen Tages, 11.9.15 (11+9+1+5=26). Mit diesem System hat sie die Zeit in Zahlen erfasst, die Dimension der Zeit in Grafik übersetzt, Erinnerungsräume geschaffen.

 Ungewöhnliche Perspektiven: Puppen aus Hanne Darbovens "Kinder dieser Welt" vor nüchternen Zahlenkolonnen.

Ungewöhnliche Perspektiven: Puppen aus Hanne Darbovens "Kinder dieser Welt" vor nüchternen Zahlenkolonnen.

Foto: Fischer

Das kann ein Jahrhundert sein oder die Spanne von Rainer Fassbinders Leben, die Zeit des Kalten Krieges, gekoppelt an Darbovens Biografie vom ersten Marmeladenbrot bis zum sehnlichen Wunsch nach einer Ost-West-Demokratie, oder das als "Europäisches Jahr gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit" deklarierte Jahr 1997.

Zahlenkolonnen füllen Din-A-4 Blätter, bilden in wandfüllenden Blöcken gehängt das strukturelle Umfeld für Erinnerungssplitter, Fotos und Texte. Man kennt Darbovens riesige serielle Blattfolgen - "Bismarckzeit" zählt 917 Blätter, "Kinder dieser Welt" insgesamt 2383, "Schreibzeit" 2584 Blatt und 116 Notizblätter - , die sich jetzt in der Bundeskunsthalle wandbreit und neun Meter deckenhoch ausbreiten.

Man kennt ihre faszinierenden Quersummenspiele, die dichten Zahlenfelder, die daraus abgeleiteten Noten-Partituren und die Texte, die in einem quasi meditativen Akt immer wieder abgeschrieben wurden. Die Bundeskunsthalle, die sich für ihre monumentale, erste große posthume Darboven-Retrospektive "Zeitgeschichten" mit dem Münchner Haus der Kunst zusammengetan hat, versucht aber auch, die "andere" Darboven zu zeigen, eher unbekannte und sehr witzige Facetten, vergessene Aspekte ihres Werks auszubreiten.

Außerdem gelingt den Kuratoren Susanne Kleine und Rein Wolfs das wirklich berührende Porträt einer von ihrem vermeintlich spröden, penibel strukturierten Werk her gerne dem Minimalismus zugerechneten Künstlerin. Schon der gründerzeitlich verschnörkelte, mit allerlei Kitsch, aber auch historischen Plänen und einer altertümlichen Schreibmaschine überfrachtete Schreibtisch - aus dem Atelier in die Bundeskunsthalle transportiert - widerspricht diesem Nimbus der kargen Ästhetik.

Immerhin: Eine kleine Skulptur von Sol LeWitt, Star der New Yorker Minimalisten. denen sich Darboven ganz eng zugehörig fühlte, verrät den künstlerischen Hintergrund. Um den Schreibtisch herum, dessen geschwungene Füße unter der Last einzuknicken scheinen, sieht man die Urfassung des Hauptwerks "Schreibzeit" (1975 bis 1981) auf Transparentpapier, Notizzettel, Versuche, Rechenübungen, Textfragmente, eine Art Enzyklopädie zum Wissen der Welt.

Der Auftakt der Ausstellung präsentiert Ungewohntes: Man trifft auf historisches Kinderspielzeug, Puppen und aufgereihte Kasperlefiguren-Köpfe, eine lustige Giraffe und bunt angezogene Figurinen, die im Kontrast zu Darbovens strengen kalendarischen Ordnungssystemen stehen.

"Kinder dieser Welt" heißt der Werkkomplex, der seit der Erstpräsentation 1997 in Stuttgart nicht mehr in Deutschland zu sehen war: Die Arbeit, bestehend aus 200 beschriebenen Büchern, 2383 Blättern in verschiedenen Blöcken, 114 Packpapiertafeln und unzähligen Objekten, füllt rund ein Drittel der großen Halle, widmet sich in liebevoller Ausführlichkeit dem kindlichen Lernen, der spielerischen Erfassung der Welt. Darboven selbst ist im Foto als Kind in der Kutsche, gezogen von ihrer Lieblingsziege "Micky", Teil dieser enzyklopädischen Arbeit.

Jahre zuvor - in einem politischen Werk über Fassbinder - schrieb sie: "Schmidt hat meine Ziege nicht gefressen, aber Kohl frisst sie." Der Bonner Teil der Retrospektive betont den politischen Stellenwert Darbovens. Durchaus stimmig, denn die Künstlerin hat sich intensiv an der Bonner Republik gerieben, etwa in "Wende 80", basierend auf einem Spiegel-Doppelinterview vom 29. September 1980.

"Was befähigt Sie zum Kanzler?", lautet die übergeordnete Frage: Helmut Schmidts Antworten lässt Darboven stehen, die von Franz Josef Strauß sind geschwärzt. Ein deutliches Statement. Die große Friedensdemo im Bonner Hofgarten 1981 hat Darboven ebenso beschäftigt wie Gustaf Stresemanns Bekenntnis zum Völkerbund. Politik steht in dieser wunderbar arrangierten Schau neben Privatem. Berührend etwa ihre dicht vollgeschriebenen Taschenkalender von 1966 bis 2009. Letzter Eintrag: 9. März 2009, der Todestag.

Im Interview mit Walter Smerling für den WDR antwortete sie 1991 auf die Frage, ob sie Minimal Art mache: "Ich mache Maximal Art." Das belegt diese herausragende Ausstellung aufs Schönste.

Bundeskunsthalle, bis 17. Januar 2016. Di, Mi 10-21, Do-So 10-19 Uhr

Hanne Darboven: 1941-2009

Hanne Darboven, wird 1941 als Spross der Hamburger Kaffeeröster-Dynastie in München geboren. Sie studiert Kunst in Hamburg, zieht für zwei Jahre nach New York, wo sie die Minimalisten-Szene kennenlernt. 1966 entstehen erste Datumsarbeiten, das Schreiben und die Arbeit mit Zahlenkolonnen werden zum konzeptuellen Akt.

"Schließlich bin ich auf die Tagesdaten gekommen, da man sich ja doch täglich mit dem Sinn oder Unsinn der Dinge beschäftigt", sagt sie dazu. Sie spricht von "Schreiben ohne zu beschreiben". 1973 beginnt sie mit ihrem Hauptwerk "Schreibzeit". Darboven nimmt an den Documentas 5, 6, 7 und 11 teil, was ihren Rang als eine der herausragenden Künstlerinnen des 20. Jahrhunderts unterstreicht.

1982 vertritt sie die Bundesrepublik bei der Kunstbiennale von Venedig. Im Jahr 2000 wird die Hanne Darboven Stiftung im Atelierhaus Am Burgberg in Hamburg gegründet. Am 9. März 2009 erliegt sie einem Krebsleiden.

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