Wenn Musik zu Religion wird

BONN · Der Dirigent Hans von Bülow hatte Beethovens Klaviersonaten lapidar als das "Neue Testament der Musik" bezeichnet. Was den Musikforscher und Privatschüler Bülows, Carl Fuchs, 1885 zu der originellen Frage veranlasste: "Wie soll man nun katholisch Clavier spielen?" Mit dem Zusatz, man könne "doch nicht ignorieren, dass Beethoven katholisch war".

 Der ironische Atheist als Mystiker am Klavier: Alfred Brendel 2006 bei einem Auftritt in Luzern.

Der ironische Atheist als Mystiker am Klavier: Alfred Brendel 2006 bei einem Auftritt in Luzern.

Foto: dpa

Gut 130 Jahre danach hat der Erlanger Theologe Martin Nicol in der Veröffentlichungsreihe des Beethoven-Hauses Bonn "Für Kenner und Liebhaber" diese Fragestellung "mit Augenzwinkern" und persönlicher "Liebe zum Gegenstand", wie er versichert, noch einmal aufgegriffen.

Um eloquent und mit gründlicher Quellenkenntnis zum Ergebnis zu gelangen, dass der Weg der religiösen Rezeption der Klaviersonaten bereits vor 1827 (Beethovens Todesjahr) beginnt. Um dann mehr oder minder ungebrochen durch das 19. Jahrhundert zu führen und erst im Jubiläumsjahr 1970 ein vorläufiges Ende zu finden.

Dass sogar Beethoven selber bereits ernsthaft nach einer intellektuell und emotional befriedigenden Gottesvorstellung suchte, hat in seiner zur Zeit neuesten Beethoven-Biografie auch Jan Cayers bestätigt.

In den "Betrachtungen über die Werke Goethes im Reiche der Natur" des protestantischen Geistlichen Christoph Christian Sturm (1746-1786) las Beethoven fast täglich. Und nach 1815 wurde das Komponieren für ihn sogar zunehmend zu einem rein geistigen Vorgang, der sich fast ausschließlich "am Altar seines Schreibtisches" (Cayers) vollzog.

Leider findet man in Nicols sonst so gründlich recherchierter Publikation keinen Hinweis auf jenes Werk, das bereits zu Beethovens Lebzeiten erschien (im Dezember 1818 in Dresden, vordatiert auf 1819) und ausgerechnet diesem "Altar" der Musik höchste philosophische Weihen erteilte.

Denn nirgends war Arthur Schopenhauer seinen Zeitgenossen näher als mit seiner philosophischen Apotheose der Musik in seinem Hauptwerk "Die Welt als Wille und Vorstellung". Was konnte der Idee der deutschen Romantiker von der Fortsetzung der Religion mit ästhetischen Mitteln willkommener sein als Schopenhauers Credo "Musik ist metaphysische Tätigkeit"?

Zu Recht weist Nicol darauf hin, dass bereits Hector Berlioz über Franz Liszts Vortrag der "Mondscheinsonate" berichtet: Nachdem alle Lampen im Raum gelöscht waren, "erhob sich mitten in diesem Dunkel (....) der Schatten Beethovens (....). Jeder von uns schauderte in der Stille, überwältigt von Ehrfurcht, von religiösem Schrecken."

Mit dem ergänzenden Hinweis bei Nicol, dass noch 1932 der jüdische Journalist und Jurist Rudolf Kastner im Begleitheft zur ersten Gesamtaufnahme der Sonaten, eingespielt von Arthur Schnabel, Beethoven sogar die Züge Jesu Christi in Gethsemane verleiht. Im Zusammenhang mit den Sonaten op. 27 und op. 28 schreibt Kastner: "Es muss Spätsommer 1801 sein. Beethoven kniet vor der Gottheit der Natur - es naht die Stunde des Heiligenstädter Testaments, die schwerste in diesem wundersamen Leben und Leiden."

Derartige jesuanische Beethoven-Deutungen überraschen nicht angesichts des von Nicol eindringlich geschilderten massiv religiösen Beethoven-Kults Richard Wagners, bei dem (in seiner Beethovenschrift von 1870) der Komponist an "Christi Stelle" tritt und sogar "Christi Erlösungswerk" ergänzt.

Ins Gedächtnis aber ruft Nicol auch die eigenwillige Fortsetzung derartiger Beethoven-Religionsansätze in Gestalt der "Hohepriesterin" im braunen Beethovenkult, Elly Ney, die gegenüber Hitler im April 1933 kategorisch erklärte: "Kunst ist für mich keine Profession (...), sondern Religion." Um etwas später dann, zur Ehrenbürgerin der Stadt Bonn ernannt, im Januar 1934 dem Bonner Oberbürgermeister mitzuteilen, sie hoffe, Bonn werde "zu einem Orte, wo man in der Musik Gottesdienst sieht, wo jeder Gottesdienst Menschheitsdienst bedeutet, Dienst an unserem Volke".

Wie überhaupt Nicol immer wieder auch die Interpreten des Neuen Testaments der Beethoven-Sonaten zu Wort kommen lässt. Mit überraschenden Bekenntnissen etwa der beiden "protestantischen Mystiker" Wilhelm Kempff und Edwin Fischer bis zu Alfred Brendel, der sich zwar selber als "ironischen Atheisten" definiert hat, dem Nicol gleichwohl bescheinigt, dass auch er als "Mystiker am Klavier gelten kann".

Nicol schließt überraschend mit der Hypothese, dass durch neuartige Hörerfahrungen "sich möglicherweise auch eine religiöse Beethoven-Rezeption erneuern kann".

Wahrscheinlich würde ihm hier jener Philosoph widersprechen, der bei Nicol leider unerwähnt bleibt. Der mit Musik gründlich vertraute Peter Sloterdijk stimmt zwar (in seinem Essay "Wo sind wir, wenn wir Musik hören?") zu, dass die "große westliche Musik (...) auf hohen Stufen melodischer Individuation Heimfahrten ins Innerste, Fernste" vollzog.

Aber diese "synthetische Energie der europäischen Hochmusik scheint im zeitgenössischen Musikbetrieb verloren gegangen zu sein.(...) Es wäre sinnlos, von heutigen Zuständen aus die gute alte Zeit einer integralen Musik beschwören zu wollen, in der das jetzt Zerfallene und Ausdifferenzierte noch beieinander war."

Martin Nicol: "Gottesklang und Fingersatz", Beethovens Klaviersonaten als religiöses Erlebnis, Verlag Beethoven-Haus, 308 Seiten, 28,50 Euro.

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