Bildband über altes Berlin Rinnstein statt Schlösserpracht

Man kennt seine gezeichneten Wimmelbilder mit pausbackigen Kindern beim "Berliner Strandleben" oder im "Nauener Park". Und sie sind schuld daran, dass Heinrich Zille (1858-1929) den meisten immer noch als eher harmloser "Miljöh"-Idylliker gilt.

 Unbekannte Schöne: Studie von Heinrich Zille.

Unbekannte Schöne: Studie von Heinrich Zille.

Foto: SCHIMER/MOSEL

Seine Sicht auf "Das alte Berlin" in Fotografien von 1890 bis 1910 aber ist deutlich dunkler. Die Hauptstadt erscheint um die vorletzte Jahrhundertwende als morastige Baustelle, in der vielfach Bretterzäune die Blickachsen verrammeln.

Das offizielle Berlin und dessen Schlösserpracht interessieren Zille allenfalls am Rande, er blickt lieber in den Rinnstein als auf Schlossfassaden. Im Elendsviertel Krögel sieht er mit Schlaglöchern gepflasterte Straßen, abplatzenden Putz an windschiefen Häusern und skeptisch dreinschauende Arbeiterkinder. Und die wilde Müllkippe in Charlottenburg würde man eher in Bombay vermuten.

Technisch weiß Zille, damals Angestellter des Repro-Betriebs "Photographische Anstalt", sehr genau, was er tut. Doch dass uns seine Lichtbilder in beinahe perfekter Ausleuchtung begegnen, hat auch einen zweiten Grund. Als die Zille-Fotos 1975 (als zweites Buch des Schirmer/Mosel-Verlags) erscheinen, befürchtet der Verleger, dass die Eigentümer die Negative zurückfordern könnten.

Und als 1985 ein hoffnungsvolles Fotografie-Talent namens Thomas Struth nach Aufträgen fragt, lässt ihn Lothar Schirmer von den Glasplatten neue Abzüge anfertigen. Struth, heute Lichtbildner von Weltrang, tut dies mit seinem bei Bernd und Hilla Becher geschulten Blick, wobei er sich mit Interpretationen zurückhält.

Diesem Glücksfall verdankt sich der vorliegende Band. Offenbar schießt Zille schon damals ganze Serien, indem er alle Möglichkeiten der Wechselkassette mit zwölf Magazinen ausnutzt. Manches Bild lässt an den großen Malerkollegen Adolph Menzel denken, manche Armutsstudie an Käthe Kollwitz. In seiner Serie "Die Reisigsammlerinnen" wirken die Frauen wie Zugtiere vor den schweren Handkarren.

Freilich ist der Fotograf keineswegs auf Tristesse abonniert: Das trotzig in die Pfütze patschende Mädchen ("Kinder auf der Knobelsdorffbrücke") könnte fast von Cartier-Bresson sein, und die Handstandriege am Sandhügel hat als Schattenspiel fast surreale Grazie. Hier wie auf vielen Zille-Bildern sieht man viel Boden oder Straße - wobei nicht ganz klar ist, ob dem korpulenten Urheber die Kamera auf dem Bauch nach unten rutschte oder er bewusst diese Perspektive wählte.

Seine wohl schönste Serie gelingt Heinrich Zille auf dem Rummelplatz. Dessen Wunder blendet er keineswegs aus (ein Mädchen reitet stolz das Karussellpferd, als wär's ein echter Lipizzaner), doch es gibt eben auch ärmliche Schaustellerbuden und die Plumpsklos im Hinterhof.

1906 wird Zille aus der "Photographischen Anstalt" entlassen. Danach fotografiert er kaum noch, auch weil er vermutlich den Wert dieser Bilder gewaltig unterschätzt.

0 "Das alte Berlin": Photographien von Heinrich Zille 1890-1910, in den Abzügen von Thomas Struth. Schirmer/Mosel, 208 S., 29,80 Euro.

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