Martin Amis' Roman "Interessengebiet" Pedantische Bestien

Für diesen Mann gelten keine Verbotsschilder. Martin Amis ("Gierig", "Yellow Dog") beharrt darauf, dass Literatur alles darf. Also wagt er es auch, eine Liebesgeschichte vor den rauchenden Schloten eines namenlosen Nazi-Vernichtungslagers zu erzählen, das man gleichwohl als Auschwitz erkennt.

 Für diesen Mann gelten keine Verbotsschilder: Der englische Literaturstar Martin Amis.

Für diesen Mann gelten keine Verbotsschilder: Der englische Literaturstar Martin Amis.

Foto: EFE_FILE

Sein französischer Verlag Gallimard wie dessen deutsches Pendant (Hanser) sahen hier Tabus verletzt, und so erscheint der skandalverdächtige Roman "Interessengebiet" nun bei Kein & Aber (Zürich/Berlin). Ein ungeheuerliches Buch, gewiss, aber keines, das man in moralische Quarantäne stecken müsste. Der vier Jahre nach Kriegsende geborene Autor beginnt mit einem Klischee: Der Liebesblitz trifft den hünenhaften Ingenieur und SS-Obersturmbannführer Golo Thomsen angesichts von Hannah Doll, der Frau des Lagerkommandanten Paul.

Beide Rivalen dürfen sich in Ichform profilieren und entlarven: Thomsen als zynischer Casanova, der sich als Verbindungsmann zwischen Lager und Buna-Werken einen "obstruktiven Mitläufer" nennt. Wobei er bis kurz vor Schluss immer so geschickt mit den braunen Herren paktiert, dass es für ihn nie wirklich gefährlich wird.

Und Doll, längst mit der Verwaltung des Grauens überfordert, plaudert derart amüsiert über eine schockierende "Selektionspanne" an der Rampe, dass man sich angeekelt abwenden möchte. In vielen meist ebenso knappen wie exzessiven Szenen lässt Amis diese Männer ein Theater des maßlosen Schreckens inszenieren, Grand Guignol ohne schwarze Zensurbalken.

Man trinkt Sancerre, verführt Frauen und wundert sich zwischendurch doch ein wenig über die unerwartet hohe Zwischenbilanz von 107 000 Toten im Lager. Der in New York lebende Brite stellt dieser "blutgierigen Borniertheit" eine andere, leisere und eindringlichere Stimme gegenüber. Die gehört Szmul, dem jüdischen "Sonderkommandoführer", der zum Fleddern der Leichenberge gezwungen wird. Sich und seine Truppe nennt er "nicht nur die traurigsten Männer, die je gelebt haben, sondern auch die widerwärtigsten". Und für ihn ist das KZ ein Spiegel, in den man nicht schauen, von dem man sich aber auch nicht abwenden kann.

Ähnlich ergeht es dem Leser mit Amis' Roman. Die pedantische Bestialität wirkt gerade in Verbindung mit dem süffisanten Parlando der Nazis unerträglich, doch in diesen Passagen spielt der Autor seinen Hang zu hellsichtigem Sarkasmus am bösesten aus. Und wenn Thomsen einen Hausbesuch bei Adoptivonkel Martin Bormann macht, fängt Amis die lebensgefährliche Lächerlichkeit der Nazi-Gewaltigen perfekt ein.

An anderen Fronten scheitert das Buch beinahe zwangsläufig. Die Liebesgeschichte verläppert, und obwohl Paul Doll die Untreue seiner Frau spürt und auf Rache sinnt, schürt der Autor die entsprechende Spannung eher halbherzig. "Walpurgisnacht" heißt das letzte Kapitel, in dem Szmul wiederum zum Werkzeug seiner Peiniger werden soll.

Doch nicht nur ihm, der verzweifeltsten Figur des Buchs, ist längst der Gedanke gekommen, dass das Dritte Reich eine einzige, lange Walpurgisnacht war. Deren Albträumen und Paradoxien, Irrlichtern und unüberschaubaren Katastrophen stellt sich Martin Amis mit all seiner (manchmal allzu selbstgefälligen) Sprachbrillanz. Das bleibt letztlich vergeblich, weil weder die Frage nach dem "Warum?" zu klären ist noch jene, wie man mit solchen Erfahrungen überhaupt überleben kann. Aber Literatur muss diese Fragen wenigstens stellen.

Martin Amis: Interessengebiet. Roman, aus dem Englischen von Werner Schmitz. Kein & Aber, 416 S., 25 Euro.

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