Bachs Goldberg-Variationen in der Beethovenhalle Nicht nur für schlaflose Nächte

Die Mär von der Entstehung von Johann Sebastian Bachs Goldberg-Variationen ist eigentlich ein ironischer Scherz. Danach soll der mit Bach befreundete russische Gesandte am Dresdner Hof, der Graf Hermann Carl von Keyserlingk, die Musik beim Komponisten bestellt haben, damit sein junger Hof-Cembalist Johann Gottlieb Goldberg ihn in seinen schlaflosen Nächten mit seinem Spiel ein wenig aufheitern könne.

 Variationen-Experte András Schiff in der Beethovenhalle.

Variationen-Experte András Schiff in der Beethovenhalle.

Foto: Barbara Frommann

Ein paar Variatiönchen zur geneigten Unterhaltung, mehr wollte er der Legende nach gar nicht. Der Pianist András Schiff, der die "Aria mit verschiedenen Veränderungen" am Donnerstagabend bei seinem zweiten Beethovenfest-Auftritt in der fast ausgebuchten Beethovenhalle vorstellte, bezweifelte den Wahrheitsgehalt der Geschichte in seiner dreiviertelstündigen Einführung zu Recht. Außerdem sei Goldberg damals erst 14 Jahre alt und wohl kaum in der Lage gewesen, dieses schwierige Werk zu spielen.

Es ist nicht nur der fingertechnische Anspruch, der eine gewisse Hürde darstellt, sondern es sind auch der quasi architektonisch durchkonstruierte Aufbau und die Spannweite des Ausdrucks, dessen Spektrum vom Schwindel erregend virtuosen Figurenwerk à la Scarlatti bis zur Tiefe der Bach'schen Passionen reicht. Gleichwohl liegt ein Kern Wahrheit in der von Bachs erstem Biografen überlieferten Keyserlingk-Anekdote. Denn man kann dieses kompositorische Wunderwerk durchaus auch ohne Kenntnis seiner komplexen Struktur, in der etwa mit Ausnahme der letzten jede dritte Variation ein Kanon ist, mit Genuss hören. Es ist einfach schöne und abwechslungsreiche Musik mit höfischen Tänzen wie Menuett oder Sarabande, wie man sie auch aus den Suiten Bachs kennt. Aber es ist eben auch sehr viel mehr, wofür Schiff in seinem mit einigem Humor angereicherten Vortrag auf kluge und charmante Weise sensibilisierte. "Über Musik zu sprechen, ist schwierig. Ich tue es trotzdem", begann der Ungar seine Ohren öffnenden Ausführungen. Danach erlebte eine musikalische Interpretation, die den Bach'schen Variationen-Kosmos in seiner unendlichen Vielfalt funkeln ließ. Schiff spielte in der Aria und den folgenden 30 Variationen und auch bei der Wiederkehr der Aria am Schluss alle Wiederholungen mit. "Nicht weil ich dogmatisch bin, sondern weil der große Johann Sebastian Bach es so wollte", kündigte er an. Schiff ist freilich ein so außerordentlich kluger und sensibler Musiker, dass er die Wiederholung immer auch als eine kleine Variante spielte, wobei er nie plakativ, sondern immer sehr subtil vorging. Mal hob er eine andere Stimme ein wenig hervor als beim ersten Mal, änderte leicht die Dynamik oder er fügte ein paar kleine Verzierungen hinzu.

Dabei spielte er immer sehr kantabel, nicht nur in den Oberstimmen. Die Bässe ließ er nicht im Staccato vorüberhüpfen, wie der Urvater der modernen Goldberg-Variationen-Interpreten, Glenn Gould, es vorgemacht hat, sondern führte sie in ruhiger, melodiöser Geschmeidigkeit, wie es auf einem Cembalo nie möglich wäre.

Über Details kann man natürlich unterschiedlicher Meinung sein. Zum Beispiel könnte man fragen, ob sich die Expressivität des Kanons in der Septime nicht vielleicht doch noch besser entfalten würde, wenn man ihn ein wenig langsamer spielte. Insgesamt umgab er die Aria und ihre 30 Variationen jedoch mit einer faszinierenden Aura, die jeden im Saal regelrecht zum Zuhören zwang.

Das Publikum applaudierte stehend und so lange, bis der so gefeierte Pianist sich doch noch einmal an den Flügel setzte und sein Publikum mit der komplett gespielten Klaviersonate op. 109 in E-Dur von Ludwig van Beethoven beseelte, deren Wiedergabe wunderbar nuancenreich, sensibel und technisch über jeden Zweifel erhaben herüberkam.

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